Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
wenn er Schwächen offenbart. So als Dodo mit automatischem Schreiben vergeblich versucht, seine Schreibblockade zu überwinden. Sein Handwerkszeug versagt Dodo den Dienst. Vielmehr begehren in seiner dunkelsten Stunde die eigenen Figuren gegen ihn auf, und kurz danach trifft ihn ein Stein, der in die Unterwelt der Geschichte gehört. Was also tun, wenn man Teil der Handlung zu werden droht? Hier gilt es eine Regel zu brechen, die zu Beginn ans Herz gelegt wurde, als vom Sitzfleisch die Rede war. In solchen Notfällen ohne Zögern vom Sessel oder Schreibtisch erheben, pausieren und gegebenenfalls Aufputschmittel einnehmen: »Vielleicht sollte ich mir einen Kaffee kochen«, überlegt Dodo zur Hälfte des Projekts, »Balzac hat ja angeblich 60 Tassen am Tag getrunken.« Das lässt Teetrinker kalt, gewiss, aber auch sie werden verstehen, dass beim Schreiben nicht immer alles glückt. Das lernen wir von Dodo, und das spiegelt tröstlich auf alle zurück, die es ihm gleichtun wollen.
Apropos Schwächen: Bei allem Lob für das Schreiblehrbuch – es hat einen Fehler. Der Sessel, um den sich alles dreht, wird vom Kapitän unseres Walfängers zur Mitte des Buchs harpuniert. Am Ende steht er allerdings unversehrt in der Praxis von Professor Siegmund. Ist das verzeihbar in einem großen Werk? Natürlich, es ist nicht nur verzeihbar, sondern ein Kunstgriff Doktor Dodos. Der aufmerksame Leser freut sich über ein Fundstück dieser Art und reiht es stolz seiner mangelhaften Welt ein. Und letztlich nimmt das, um mit Adorno zu sprechen, den Makel des Scheins des Vollkommenen vom Werk.
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Aufgabe
Schreiben Sie eine kurze Erzählung, bei der Sie Dodos Grundlehren beherzigen. Beachten Sie folgende Hinweise:
Sitzen Sie (am Schreibtisch, im Sessel)?
Schreiben Sie einen ersten (oder zweiten) Satz!
Zählen Sie Ihre Figuren ab! Sind es mehr als zwölf?
Gibt es einen Konflikt in ihrer Geschichte?
Ja / Nein (Bitte ankreuzen)
Erfinden Sie eine reizvolle Nebengeschichte, die Sie auf das
Nötigste beschränken (Stichwort: Dod und die Prinzessin)
Wo lahmt Ihre Handlung? Streichen Sie alle Plaudereien!
Lautes Vorlesen vor Publikum hilft, diese Stellen zu finden
. Markieren Sie im Manuskript, wenn Ihre Zuhörer
wegsacken.
Arbeiten Sie fünf Zufälle in die Geschichte ein, davon mindestens
einen, der die Handlung beeinflusst.
Heben Sie das Niveau Ihres Textes durch Anspielungen auf
die Popular- und Weltkultur! (Schiller, Jennifer Lopez,
Am laufenden Band)
Wer nach Lektüre der Aufgabe weiterhin im Rhythmus des blinkenden Cursors meditiert, beherzige – sofort – drei Dodo-Worte:
BURKHARD SPINNEN
Von XY lernen, heißt …?
Nein, ich will eigentlich gar nicht ausführlich über eine Theorie des Lernens von literarischen Vorbildern räsonieren. Aber ich kann mich auch nicht ans Persönliche oder Anekdotische machen, ohne ein wenig über die Bedingungen seiner Möglichkeit nachzudenken.
Vorweg eine kurze Klärung: Wie funktioniert überhaupt die Anregung des Autors? Natürlich, er erlebt etwas, er hört oder sieht oder liest etwas. (Auf welchem Wege sollte es auch sonst in seinen Kopf gelangen? An Allegorien des Geniekults wie den »Musenkuss« glaube ich nicht.) Manchmal sofort, oft erst später spürt der Autor dann, welche seiner Erfahrungen ihn in einem wesentlichen Sinn ansprechen – meistens mit einer Frage! – und im Gegenzug fragt er sich, wie diese Erfahrungen gestaltet werden müssen, um einen Text zu ergeben. Vielleicht eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluss; in jedem Falle aber einen Text, der zumindest seiner Kernfrage angemessenen Ausdruck gibt. Autor zu sein heißt also: Aus einer Unsumme von Erfahrungen die mich genau treffende Verletzung oder Verstörung zu erkennen und aus dem Material dieser Erfahrungen, woher es auch stammen mag, das Material der Literatur zu brechen, es zu arrangieren, zu komponieren und es schließlich durch die Metamorphose des eigenen Schreibens zu etwas Ganzem und wenn möglich Neuem zu machen.
So ähnlich nun, denke ich, funktioniert auch die Anregung von Literatur durch Literatur. Das heißt: auch sie kann überhaupt nur sinnvoll sein, wenn nicht Nachahmung, sondern Verwandlung als »Anverwandlung« das Ziel ist.
Ich habe das selbst erlebt, auch schmerzlich. Es gab Phasen in meiner eigenen Schreibgeschichte, da es Vorbilder gab, zu denen ich mich, hätte man mich gefragt, mehr oder weniger enthusiastisch bekannt und deren Nachahmung ich
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