Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
fontaneschen Figuren bloß nachahmt, schreibt bestenfalls historische Kolportage. Es geht vielmehr um die Herausforderung, das Gerede der eigenen Sprachgegenwart zum Vehikel für wesentliche Mitteilungen zu machen. Ich selbst sehe eine wichtige Aufgabe des Schreibens darin, den Kontakt zwischen Literatur- und Umgangssprache nicht mehr so abreißen zu lassen, wie das zu Zeiten der späten Moderne geschehen ist. Zu den viel beschworenen Vorzügen der angelsächsischen Literatur gehört ja, sicherlich bedingt durch das Wesen des Englischen oder Amerikanischen, dass der Austausch zwischen gesprochener und geschriebener Sprache reibungsloser und kreativer ist. Das zeigt mit großer Deutlichkeit die Dominanz des Englischen als Sprache des lyrischen Pop. Man versuche nur einmal, die Zeile »The centre of the heart is a suburb to the brain« (aus einem Song von Roxette ) in ein ansatzweise lyrisches Deutsch zu übersetzen!
Und genau hier fungiert für mich Fontane als Mahner. Die deutsche Alltagssprache der Gegenwart wirft sich mir nicht willig um den Hals. Ich muss sie listig erobern, wenn ich mir ihre Fähigkeiten aneignen will. Von Fontane lernen heißt begreifen, dass es keineswegs genügt, den äußeren Schein nachzupinseln. Nicht alle stillen Wasser gründen tief. Es ist eine große Anstrengung, das Wichtige an der Oberfläche zu verbergen.
Unter diesem Sprachaspekt betrachtet, hat übrigens Arno Schmidt eine ähnliche Bedeutung für mich wie Fontane. Natürlich bildet Schmidt eine andere Sprecherepoche und andere Sprecherschichten ab, aber der Impetus scheint mir bei aller Verschiedenheit der Ansätze doch erkennbar ähnlich zu sein: Es geht um einen möglichst ergiebigen Austausch zwischen den Sprachwelten des Alltags und der Literatur.
Neben solchen zugegebenermaßen ziemlich hoch im Allgemeinen angesiedelten Belehrungen durch Literatur gibt es natürlich auch welche, die punktueller oder spezifischer sind. So hat mich zum Beispiel der Amerikaner James Thurber immer wieder durch seine Fähigkeit fasziniert, die abgründigen Fantasien der Bewohner einer Angestelltenwelt zu schildern, ohne dass aus den Durchschnittstypen Monster oder Sonderlinge wurden. The Secret Life of Walter Mitty ist eine Kurzgeschichte, die berühmt wurde, als man sie in einen abendfüllenden Spielfilm verwandelte. Ich habe die Geschichte als Junge gelesen und war schlagartig davon überzeugt, dass man Träumer und Schwächlinge richtig beschreiben kann, nämlich als Träumer und Schwächlinge – und ihnen dabei doch ihre Würde belässt. Ja mehr noch: Walter Mitty wurde für mich zur allegorischen Figur für den Umstand, dass Träumer und Schwächlinge eine ganz einzigartige Würde besitzen, von der manche Helden nur träumen können.
Ich könnte diese Beispielreihe nun noch eine Zeitlang fortsetzen. Aber es treibt mich ein bisschen ins Theoretische zurück. Je mehr ich nämlich über mein Lernen von Vorbildern nachdenke, desto mehr denke ich, es müsste der Satz gesagt werden, dass Schriftsteller Menschen sind, die sich von Literatur ein klein wenig mehr fesseln, abstoßen, überzeugen und anziehen lassen als vom so genannten wirklichen Leben. Ich sehe das so. Schriftsteller sind Menschen mit einem Hang zur Gestaltung und zum Gestalteten – und deshalb ist die Reihe ihrer Leseerfahrungen vielleicht ihre eigentliche Biographie. Denn Texte sind Gestaltetes, und daher sind sie nicht weniger als Erlebtes, sondern – für Schriftsteller – mehr. Und so nimmt man als Autor aus seiner Lektüre neben dem Reflektierten, neben den deutlich formulierbaren Fragen (siehe oben) auch tausend Macken und Schrammen mit, getrocknete Blätter, kleine Steine, allerlei Andenken eben, mag sein in Form von Szenen oder Figuren, mag sein als Sätze oder Wendungen.
Ein Beispiel: In einem meiner Kinderbücher sagte der junge Raufbold zum Zaghaften: »Das Leben besteht aus lauter angefangenen Geschichten. Man muss sie nur richtig zu Ende erzählen.« Das Buch ist seit Jahrzehnten verloren, und vermutlich hat sich das Zitat seitdem in meinem Kopf erheblich verändert. Aber der harmlose Aphorismus sitzt mir wie ein Steinchen im Schuh. Anderes in seiner Art juckt an Stellen, an denen man sich nicht kratzen kann.
Was ich sagen will: Die wichtigste, aber ganz schlecht auf den Begriff zu bringende Anregung zur Literatur durch die Literatur besteht in einer Lektüre, die sich als permanentes Gespräch mit dem Gelesenen vollzieht. Diese Lektüre kann sich am Kanon
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