Erstkontakt
alles nachzudenken. Ich bin es leid, tagtäglich die gleichen Dinge zu tun, immer und immer wieder in der gleichen Art und Weise.« Ich bin dich leid, meinte sie eigentlich mit jenem heimlichen Mitleid, das seine zum Schutz entfachte Wut gleich wieder verfliegen ließ. Sie stellte das Glas hin und schaute ihn an, möglicherweise zum erstenmal an diesem Abend. Und sie lächelte: Es war das verschmitzte, freundliche Grinsen, das sie gewöhnlich einsetzte, wenn sie den Wagen in den Graben gefahren oder ein paar ungedeckte Schecks ausgestellt hatte. Mein Gott, fragte er sich, wie soll ich jemals ohne sie auskommen?
»Das Stück war auch nicht so gut, oder?« fragte er sachlich.
»Nein«, sagte sie unsicher, »es hat mir nicht besonders gefallen.«
»Wahrscheinlich haben wir schon zu viele Stücke von hiesigen Autoren gesehen.« Das Wilhelm Tell war ein Theater-Restaurant. An diesem Abend hatte eine lahme Kriminalkomödie auf dem Programm gestanden, und Harry konnte nicht von sich behaupten, das Geschehen allzu aufmerksam verfolgt zu haben. In seiner Furcht vor dem, was später kommen würde, war er seinen eigenen Text durchgegangen und hatte versucht, den Verlauf vorherzusehen und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Er hätte besser daran getan, sich das Stück anzuschauen.
Und die letzte Ironie bestand schließlich darin, daß in seiner Tasche Abonnementkarten steckten.
Sie überraschte ihn, indem sie seine Hand ergriff:
Die Leidenschaft, die er für sie empfand, war in seinem Leben einzigartig, nicht zu vergleichen mit jeder anderen Abhängigkeit oder Sucht, die er bisher kennengelernt hatte oder, wie er vermutete, jemals kennenlernen würde. Die Jahre hatten diese Leidenschaft nicht abklingen lassen, sondern sie tatsächlich durch die gemeinsamen Erlebnisse von fast einer Dekade vertieft und dabei ihre Leben derart ineinander verwoben, daß, wie Harry glaubte, keine emotionale Trennung möglich war.
Er nahm die Brille ab, klappte sie sorgfältig zusammen und schob sie in das Etui. Ohne seine Brille sah er nur sehr schlecht. Aber es war eine Geste, die Julie nicht falsch interpretieren konnte.
Gesprächsfetzen vom Nebentisch drangen zu ihnen herüber: ein Paar, leicht betrunken, die Stimmen erhebend, stritt sich über Geld und Verwandte. Ein attraktiver junger Kellner, wahrscheinlich ein Collegestudent, hielt sich im Hintergrund, die rote Schärpe unanständig eng um die schlanke Taille geschlungen. Er hieß Frank: seltsam, daß Harry sich Jahre später noch an den Namen des Kellners erinnern sollte, als sei dieses Detail besonders wichtig. Alle paar Minuten kam er an ihren Tisch geeilt, um ihre Kaffeetassen aufzufüllen. Am Ende erkundigte er sich, ob das Essen zufriedenstellend gewesen sei.
Es war schwierig, sich an die Zeiten zu erinnern, als alles noch anders gewesen war, ehe das Lachen aufgehört und die stummen Einladungen zwischen ihnen unterblieben waren. »Ich denke einfach, wir passen nicht mehr so gut zusammen. Wir scheinen ständig aufeinander böse zu sein. Wir reden nicht …« Sie sah ihn an. Harry starrte über ihre Schulter hinweg in den dunklen Raum und hoffte, daß sein Gesichtsausdruck seine innere Entrückung widerspiegelte. »Wußtest du, daß Tommy in der letzten Woche einen Aufsatz über dich und diesen gottverdammten Kometen geschrieben hat? Nein?«
»Harry«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Aber glaubst du wirklich, ganz ernsthaft, daß du uns vermissen würdest, wenn Tommy oder mir irgendwas zustieße? Oder daß du auch nur zur Kenntnis nehmen würdest, wenn wir nicht mehr da wären?« Ihre Stimme bebte, und sie schob den Teller von sich weg und starrte auf ihre Beine. »Bitte, bezahl, und laß uns von hier verschwinden.«
»Das stimmt nicht«, sagte er und schaute zu dem Kellner hinüber, der verschwunden war. Er holte einen Fünfziger aus der Geldbörse, warf ihn auf den Tisch und stand auf. Julie zog den Pullover enger um ihre Schultern und folgte Harry zwischen den Tischen hindurch zur Tür.
Tommys Komet stand über dem Parkplatz am Septemberhimmel: ein kleiner, heller Fleck, der einen langen Schweif durch mehrere Sternbilder hinter sich herzog. Bei seinem letzten Vorbeiflug war er vielleicht von Sokrates beobachtet worden. Die Datenbanken bei Goddard waren vollgestopft mit Details über seine Zusammensetzung, den Mengen von Methan und Zyan, der orbitalen Inklination und Exzentrizität. Harry hatte den Daten nichts Aufregendes entnehmen
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