Erwacht
war bittersüß. Wie immer holte mich, kurz nachdem die Euphorie, von ihm zu hören, nachließ, die Realität unserer »Freundschaft« wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wenn es ein wirkliches Date gewesen wäre! Aber eigentlich gewährte er mir nur Zutritt zu seinem Domizil in einem Lagerhaus – dort gab es eine gigantische Wand, die förmlich danach schrie, angemalt zu werden, und Lincoln hatte sich schließlich doch noch einverstanden erklärt, sie mir zu überlassen. Zwischen zwei Schichten Grundierung konnte ich allenfalls auf eine Mahlzeit hoffen. Obwohl ich versucht hatte, Lincoln zu versichern, dass Kaffee und Fertignudeln eine ausgewogene Ernährung aus Milchprodukten und Kohlehydraten darstellten, konnte ich ihn nicht überzeugen. Da Dad zur Abendessenszeit nie zu Hause war, hatte Lincoln vor Kurzem damit angefangen, mich zum Abendessen zu sich einzuladen und dann nach Hause zu bringen. Auch wenn das nicht romantisch war – überhaupt nicht , meistens unterhielten wir uns einfach über unser Training –, so war es doch schön, jemanden zum Reden zu haben, anstatt allein zu essen.
Dads Firma nahm den gesamten vierten Stock ein. Als sich die Aufzugstüren öffneten, fiel mein Blick auf das vertraute Schild aus rostfreiem Stahl, auf dem »Architekturbüro Eden« stand. Seit acht Jahren prangte es an dieser Stelle.
»Hi, Caroline«, sagte ich, als ich am Empfangsbereich vorbeikam. »Ist er da?«
Dads Rezeptionistin lächelte mich an und zog die Augenbrauen nach oben. »Wo sollte er sonst sein?«
Ich traf Dad in seinem Büro an. Er beugte sich tief über seinen Zeichentisch, auf dem Unmengen von Papier ausgebreitet waren – ein Bild, das typisch war für meinen Dad und das ich schon vor langer Zeit hatte akzeptieren müssen. Früher hatte ich immer dagegen angekämpft – oder vielmehr um seine Aufmerksamkeit gekämpft –, aber ehrlich gesagt fühlte ich mich sowieso immer, als müsste ich ersticken, wenn ich endlich seine volle Aufmerksamkeit erlangt hatte.
Was immer er da gerade machte, er war vollständig darin vertieft und zwar schon eine ganze Weile, so wie es aussah. Er hatte seine Krawatte abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. In der Hand hielt er ein Lineal und an seinem Mund hing ein Bleistift. Ich konnte seine Füße unter dem Zeichentisch nicht sehen, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass er auch die Schuhe ausgezogen hatte.
Ich schaffte es bis zur Mitte des Büros, ohne dass er mich überhaupt bemerkte.
»Hi, Dad«, sagte ich und hob die Hand.
Er blickte auf und lächelte, wobei er mit der Hand durch sein grau meliertes Haar fuhr, als würde ihn das irgendwie aus seiner Welt aus Linien, Winkeln und Lichtreflexen befreien. Er klemmte sich den Bleistift hinter das Ohr und kam hinter seinem Zeichentisch hervor. Nur Socken.
»Hi, Süße.« Er räusperte sich. »Was für eine schöne Überraschung. Ah … wie war dein letzter Schultag?«
Ich hasste, dass ich es hören konnte, aber da war es wieder, immer dasselbe. Die Stimme, die sagte: Schön, dass du hier bist, aber eigentlich bin ich gerade mittendrin in einer Sache und möchte dabei nicht gestört werden.
Ich schluckte und zog es durch. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich wusste, dass er sich schämen würde, wenn er wüsste, dass ich es heraushören konnte.
»Großartig!«, sagte ich und strahlte dazu. »Ich habe es in den Fenton-Kunstkurs geschafft. In sechs Monaten geht es los.« Das war heute meine Hauptmotivation gewesen, in die Schule zu gehen. Am letzten Schultag war normalerweise nichts mehr los, im Grunde war es schon ein Ferientag. Dad hatte nie darauf bestanden, dass ich am letzten Tag hinging. Na ja … Dad bestand nie auf irgendetwas. Aber ich konnte es schon seit Monaten nicht abwarten zu erfahren, ob ich den Platz bekomme, und als ich dann sah, dass mein Name und noch ein anderer auf der engeren Auswahlliste standen, war der Tag gerettet.
Er schenkte mir sein aufrichtiges Stolzer-Vater-Lächeln. »War klar, dass du das schaffst! Daran gab es keinen Zweifel. Du kommst nach deiner Mum.« Am Ende brach seine Stimme ein wenig. Sie war auch eine Künstlerin gewesen. Er brachte nur selten das Gespräch auf sie. Genau wie ich ließ er schmerzhafte Dinge lieber ruhen. Das war einfacher … und zugleich schwieriger. Aber in Wirklichkeit konnte nichts seinen Schmerz betäuben. Seit ihrem Tod war er ein gebrochener Mann.
»Danke, Dad«, sagte ich. Ich brannte darauf, das Thema zu wechseln. Er richtete sich
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