Erwacht
Federspitzen. Die Künstlerin in mir wusste es sofort zu schätzen.
Ich hatte nie ein Geschenk von meiner Mutter bekommen. Sie hatte mir nie warme Milch gemacht, mir nie die Tränen abgewischt oder mir ein Pflaster aufgeklebt. Sie hatte mir nicht die Peinlichkeit erspart, mit dem Kindermädchen meinen ersten BH kaufen zu müssen, und sie hatte keinen hübschen kleinen Vorrat an Tampons für mich im Bad gebunkert, der niemals ausging und der nie thematisiert werden musste. Es gab eine Menge Dinge, die ich niemals von ihr bekommen würde, aber das hatte ich schon vor langer Zeit akzeptiert. Nun ein Geschenk von ihr zu bekommen, etwas , das sie mir – und nur mir – absichtlich hinterlassen hatte, war … irgendwie komisch.
Ich setzte mich auf Dads Stuhl und strich mit den Fingern über die Schnitzereien, wie er es zuvor getan hatte. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ich rutschte auf dem Stuhl herum und schüttelte hektisch die Hand, mit der ich das Kästchen berührt hatte. »Reiß dich zusammen, Vi.«
Als ich das Kästchen öffnete, wurde mir das Herz richtig schwer. Eine winzige Silberkette mit einem kleinen Amulett lag darin. Zum letzten Mal hatte ich meine Baby-Halskette in dem Schmuckkästchen auf meinem Schminktisch gesehen. Offenbar hatte sie meine Mum als eine Art Glücksbringer für mich anfertigen lassen, als sie schwanger war. Auf jedem einzelnen meiner Babyfotos trug ich diese Halskette. Dad hatte dafür gesorgt, dass Mums Wünschen entsprochen wurde – und mehr als das.
Offensichtlich hatte Dad sie von meinem Schminktisch genommen. Ich fragte mich, ob der übrige Inhalt des Kästchens auch von ihm stammte, aber dann verwarf ich den Gedanken. Er hatte noch nie den Drang verspürt, Geschenke für mich zu fälschen. Das war nicht sein Stil.
Ich zog zwei Umschläge aus dem Kästchen. Beide waren noch versiegelt, aber vergilbt und an den Rändern ziemlich abgegriffen. Es musste Dad fast umgebracht haben, siebzehn Jahre lang davon zu wissen und keine Ahnung zu haben, was sich darin befand. Ich fragte mich, wie oft er mit seinen Fingern über die Siegel gestrichen und überlegt hatte, ob er sie brechen sollte. Es war beeindruckend, dass er hatte widerstehen können.
Ich öffnete den ersten Umschlag. In ihm steckte eine Seite, die aus einem Buch herausgerissen worden war. Es war ein Gedicht.
Liebe das Nichts,
Fliehe vor etwas,
Bleibe allein
Und gehe zu niemandem.
Handle beherzt
Und mach dich frei von allem.
Übergib die Gefangenen
Und bezwinge die, die frei sind.
Tröste die Kranken,
Aber für dich besitze nichts.
Trinke das Wasser des Leidens
Und entzünde das Feuer der Liebe mit dem Holz der Tugenden,
Dann lebst du in der wahren Wüste.
Es war schön, fand ich, auf eine traurige und überraschend religiöse Art und Weise. Dem bisschen nach, was ich über sie wusste, war Mum nicht religiös gewesen. Sie hatte alles gehasst, was Menschen ihrem Glauben nach in Schubladen steckte. Ich war nur getauft, weil Dads Familie darauf bestanden und er selbst den Vorteil darin gesehen hatte, dass ich dadurch an eine bessere Highschool kommen konnte.
Ich öffnete den zweiten Umschlag. Darin steckte ein handgeschriebener Brief. Die Schrift wirkte selbstbewusst: lange Buchstaben, ineinander verschlungen wie altmodische Kalligraphie. Meine Hände bebten ein wenig, als sie das Stück Papier anfassten, das zum letzten Mal von meiner Mutter gehalten wurde.
Mein Mädchen,
alles Gute zum 17. Geburtstag.
Ich wünschte, ich könnte bei Dir sein,
aber ich glaube, wenn Du das liest …
dann bin ich es nicht. Das tut mir leid.
Der Tag, an dem Dein Dad und ich erfuhren,
dass wir ein Kind bekommen würden,
war der glücklichste Tag meines langen Lebens.
Ich wusste, dass der einzige Tag,
der noch schöner sein würde,
der Tag Deiner Geburt sein würde –
ganz egal, wie dieser Tag enden würde.
Eine wichtige Entscheidung steht bevor.
Die Last des Bundes ist schwer zu tragen.
Entscheide mit dem Herzen, denn ich weiß schon jetzt,
dass Du, mein Mädchen, Deinem Herzen folgen musst.
Glaube an das Unglaubliche –
denn es wird nicht auf Dich warten –
und Du sollst wissen, dass nichts einfach
nur gut oder schlecht, richtig oder falsch ist.
Es gibt Mächte auf dieser Welt, die nicht so sind wie wir, mein Mädchen.
An ihrem rechtmäßigen Platz sind sie wunderbar und schrecklich, heldenhaft und böse –
und das ist gut so, denn wir brauchen beides.
Halte die Augen offen, aber glaube nicht
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