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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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allem, was sie dir zeigen.
Sie werden von der Vorstellungskraft geleitet, wir von unserem freien Willen.
Denk daran: Für jeden gibt es einen Ort, an den er gehört,
und wenn er diesen ohne Erlaubnis verlässt,
so muss er wieder dorthin zurückgeschickt werden.
Ich liebe Dich. Bitte, verzeih mir.
Mum
    Sorgfältig faltete ich den Brief und das Blatt mit dem Gedicht wieder zusammen und steckte beide jeweils in ihren Umschlag zurück. Dabei konzentrierte ich mich sorgfältig auf jede Bewegung, damit ich an nichts Anderes denken musste. Ich bündelte meine Gedanken, damit sie sich verlangsamten und nicht zu Orten wanderten, mit denen ich nicht umgehen konnte. Noch nicht. Das war eine Fähigkeit, die ich mir selbst beigebracht hatte, durch Üben, Üben und noch mal Üben.
    Der letzte Gegenstand in dem Kästchen war ein Armband. Es bestand aus dickem Leder, obwohl es metallisch aussah, mit einer Art Silberüberzug, der ziemlich abgegriffen war. Es war ungefähr vier Zentimeter breit und hatte ein ähnliches Muster wie das Kästchen. Es war faszinierend. Schön, nicht nur hübsch. Neben dem Armband befand sich ein identischer, kreisförmiger Abdruck auf dem Holz des Kästchens, wo der Lack abgeblättert war. Irgendwann hatte hier das Pendant des Armbands gelegen.
    Ich nahm das Armband und ignorierte die Tatsache, dass mein Mund und meine Augen feucht wurden. Meine Nase lief auch, aber ich hätte schwören können, dass ich Parfüm roch. Irgendetwas Blumiges? Ich fragte mich, ob es ihr Duft war – aber er konnte sich doch unmöglich all die Jahre in dem Kästchen gehalten haben? Ich schob den Gedanken beiseite. Aber genauso schnell trat ein anderer an seine Stelle.
    Der Brief. Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde.
    Nein, ich konnte einfach nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Dad konnte jeden Augenblick zurückkommen. Ich musste mich zusammennehmen, durfte mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ich wusste sowieso nicht, was der Brief zu bedeuten hatte. Eine wichtige Entscheidung? Vielleicht Schule oder Uni? Es konnte alles sein. Wahrscheinlich hatte sie es nur vorsorglich gemeint – jede Mutter möchte, dass ihr Kind glaubt, alles wäre möglich. Das mit dem langen Leben verstand ich nicht. Wie konnte jemand wie sie glauben, ihr Leben sei lang gewesen? Sie war erst fünfundzwanzig, als ich geboren wurde … als sie starb.
    Ich wischte mit der Hand über meine triefende Nase und legte alles wieder genauso in das Kästchen zurück. Als Dad zurückkam, hatte ich es schon in meine Tasche gesteckt und war auf die Couch umgezogen.
    Er zögerte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    »Ja, mir geht’s gut … bestens … ja. Da war ein Brief drin. Möchtest du ihn lesen?« Ich wollte ihm den Brief eigentlich nicht geben. Es war schön, etwas von ihr für mich allein zu haben, auch wenn es seltsam war; aber ich wusste, dass es für jeden eine Qual sein musste, siebzehn Jahre auf die Folter gespannt zu werden.
    Dad lächelte, die Falten in seinen Augenwinkeln wurden tiefer, aber er ließ die Schultern hängen. »Nein, schon okay«, sagte er.
    Oh, Shit, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wenn Dad jetzt tatsächlich zu weinen anfing. Aber er fasste sich wieder, räusperte sich und wandte seinen Blick zur Decke. »Nein, Liebes. Das ist etwas zwischen dir und Mum. Aber … danke, dass du es angeboten hast.«
    Offensichtlich reichte das Angebot schon.
    »Nun, wie du schon sagtest, ich glaube, sie hatte sich einfach vorbereitet. Es war einer von diesen … Folgedeinem-Herzen-Briefe.« Ich sagte das, als würde ich die ganze Zeit solche Briefe kriegen.
    »Jetzt werde nicht zynisch«, tadelte er mich, aber ich wusste, dass es ihm gefiel, dass ich genauso zynisch war wie er.
    Er setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf das Knie. Ich legte meine Hand auf seine. Einen Moment lang schwiegen wir.
    »So …«, sagte er schließlich, während wir beide unsere Hände wieder wegnahmen. »Was machst du heute Abend?«
    »Ich gehe zu Lincoln. Hab dort eine Wand anzumalen.«
    »Er hat also endlich nachgegeben?«
    »Ja.« Es tat definitiv gut, gesiegt zu haben.
    »Gut … klar. Dann gehst du jetzt gleich zu ihm?«, fragte er in einem munteren Tonfall, der normalerweise bedeutete, dass er mir etwas zu sagen hatte, was ich nicht hören wollte.
    »Ja«, sagte ich gedehnt.
    »Oh, gut. Weißt du, ich habe nämlich Lincoln zufälligerweise gestern getroffen, als ich draußen war, um mir ein Sandwich zu holen.« Sein Blick

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