Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
Vom Netzwerk:
abrupt auf und kam auf mich zu. Dann hielt er inne, ging wieder zurück und setzte sich an seinen Zeichentisch, wobei er sich an die Tischkanten klammerte, als wollte er sich dort festschrauben. So langsam drehte Dad durch.
    »Ich weiß, dass dein Geburtstag eigentlich erst morgen ist, aber ich möchte dir schon jetzt etwas geben.« Er knackte mit dem Kiefer, das machte er sonst nur, wenn ein Abgabetermin näher rückte oder wenn er ein großes Angebot am Laufen hatte. Dann holte er tief Luft und legte entschlossen die Hand auf den Tisch. Mit dem Handgelenk stieß er dabei an den einzigen persönlichen Gegenstand, den er in seinem Büro aufbewahrte – die Skulptur einer weißen Tür mit einem Graffiti, das Kein Zutritt für Kindermädchen! besagte. Es war das erste und einzige Kunstwerk, das wir je gemeinsam angefertigt hatten.
    Bis ich dreizehn war, hatte Dad sieben Kindermädchen vergrault, weil er nicht pünktlich nach Hause kam, vergaß, sie regelmäßig zu bezahlen, und von ihnen erwartete, dass sie auch am Wochenende arbeiteten. Ich hatte elf vergrault. Was soll ich sagen – sie waren dem Job einfach nicht gewachsen. An dem Tag, an dem Kindermädchen Nr. 19 einen Wutanfall bekam und davonstürmte, holten Dad und ich ein bisschen Ton heraus und beschlossen, dass damit ein für alle Mal Schluss sein sollte. Seitdem sind wir nur noch zu zweit. Oder eher nur noch ich allein.
    »Dad, ich möchte keine Geschenke mehr«, jammerte ich. Ein Abendessen und das Kleid, das bis dahin noch gekauft werden musste, waren bereits mehr, als ich wollte. Morgen war so ungefähr der einzige Tag im Jahr, an dem ich keine Geschenke wollte.
    »Es ist nicht von mir«, sagte er leise und schaute mich dabei nicht an. Er öffnete die unterste Schublade seines Zeichentischs, die einzige, die man abschließen konnte. Seine Bewegungen waren langsam, fast schon gequält. Er zog ein kleines Holzkästchen aus der Schublade und stellte es vorsichtig auf seinen Tisch. Seine Hand zitterte über den raffinierten Schnitzereien, mit denen der Deckel verziert war.
    Meine Augen begannen zu brennen und ich musste schnell blinzeln. Es kam nicht oft vor, dass Dad auf diese Weise seine Gefühle offenbarte. Er hob die Hand, und während sie noch über dem Kästchen schwebte, ballte er sie zur Faust und schloss die Augen. Er sah aus, als würde er beten – das war etwas, was er nie tat, und das wusste ich. Bisher hatte es nur einen einzigen Anlass gegeben, an dem er so ausgesehen hatte.
    Schließlich blickte er zu mir auf und lächelte ein wenig. Ich blinzelte noch einmal.
    »Ich habe Anweisungen erhalten. Ich habe siebzehn Jahre gewartet, um dir das zu geben. Es ist von Evelyn … Es ist von deiner Mum.«
    Unwillkürlich riss ich den Mund auf. »Aber … wie?«
    Meine Mum war völlig unerwartet gestorben. Eine Blutung bei der Geburt, die nicht vorhersehbar gewesen war. Sie konnte unmöglich irgendwelche Anweisungen für die Zeit nach ihrem Tod hinterlassen haben.
    Dad kniff sich in die Nasenwurzel und legte sich dann das Kinn in die Hand. »Ich weiß es wirklich nicht, Liebes. In dieser Nacht, als ich aus dem Krankenhaus zurückkam«, er machte eine Handbewegung zu dem kleinen Kästchen hin, »stand das auf ihrer Kommode. Darauf lag eine Notiz, auf der stand: Für unser Mädchen zu ihrem siebzehnten Geburtstag. « Er holte tief Luft. »Vielleicht war sie einfach nur gut organisiert, vielleicht … ich weiß es nicht … Sie war eine außergewöhnliche Frau … Sie spürte Dinge, die andere nicht spüren konnten.«
    »Willst du damit etwa sagen, du glaubst, dass sie wusste, was passieren würde?«
    »Das will ich damit nicht sagen, Liebes«, sagte er und strich dabei geistesabwesend über das Kästchen. »Aber darum geht es jetzt nicht. Sie wollte, dass du das bekommst, und es war ihr wichtig, dass du es genau jetzt erhältst.« Während er das Kästchen über den Tisch auf mich zuschob, stand er auf. »Ich … ähm … lasse dich jetzt kurz allein.«
    Er schlüpfte in seine Schuhe und verließ leise das Büro. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah so … allein aus. Mir fiel ein, dass Mum wahrscheinlich nicht besonders beeindruckt davon wäre, was aus uns geworden war.
    Das Kästchen war schön. Es war aus sattem, dunklem Mahagoni, das von leuchtenden goldenen Verzierungen durchbrochen wurde. Die Schnitzereien auf dem Deckel waren detailreich und schön gearbeitet, sie formten kein Bild, sondern ein Muster, eine Reihe zarter

Weitere Kostenlose Bücher