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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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Überzeugungen. Die hängen noch immer von deiner Erziehung und deinem eigenen freien Willen ab. Es ist besser, dass wir es nicht wissen. Sonst wären wir voreingenommen.«
    »Wie alt bist du?« Die Frage kam aus dem Nichts, aber ich musste es wissen.
    »Sechsundzwanzig«, sagte er angespannt. »Je älter wir werden, desto radikaler verlangsamt sich der Alterungsprozess. Wahrscheinlich dauert es noch einmal zwanzig Jahre, bevor ich wie dreiundzwanzig aussehe. Ich wollte dir mein richtiges Alter von Anfang an sagen, aber das hätte nur zu weiteren Fragen geführt, die ich nicht hätte beantworten können.«
    Ich starrte ihn einen Augenblick lang an, dann schaute ich weg, bevor ich weitersprach. »Du sagtest etwas von Kräften.«
    »Alle Grigori haben besondere Kräfte und die Fähigkeit, die Anwesenheit eines Verbannten wahrzunehmen. Wir können Verbannte zurück ins Engelreich schicken, damit man sich dort mit ihnen befasst. Wenn es der Verbannte unbedingt möchte, können wir ihm aber auch seine Engelkräfte entziehen und ihn komplett zu einem Menschen machen. Unsere anderen Fähigkeiten sind individuell und hängen von dem Engel ab, der uns zum Grigori gemacht hat, und von den Eigenschaften, die er besitzt.«
    Die einzige Fähigkeit, die ich jetzt gern besessen hätte, war, die Zeit zurückdrehen zu können, aber irgendwie ahnte ich, dass ich da kein Glück haben würde.
    »Was für eine Art von individuellen Fähigkeiten?«, fragte ich und versuchte weiterhin, ihn möglichst wenig anzuschauen.
    »Griffins Engel-Elternteil war ein Seraph. Die Seraphim bilden abgesehen von den wenigen Einzigen den höchsten Rang. Das heißt, dass er der Anführer hier in der Stadt bleibt, bis ein anderer Grigori vom selben Rang kommt, der älter ist als er. Neben seiner Führerschaft ist seine wichtigste Gabe die Wahrheit. Er kann sie schlicht und einfach übermitteln und ihre Schwächen durchschauen.«
    Ich dachte an Griffin und wie er mich völlig unbeirrt davon überzeugen konnte, dass er die Wahrheit sagte.
    »Er kann also einfach so dafür sorgen, dass ihm die Leute glauben?«, fragte ich ein wenig entsetzt.
    »Wenn das, was er sagt, der Wahrheit entspricht, dann ja.«
    »Und wie sieht es bei dir aus?« Abgesehen von der Fähigkeit, mir das Herz zu brechen.
    »Mein Engel-Elternteil gehörte zum Rang der Herrschaften. Ich habe zusätzliche Kraft und Schnelligkeit. Außerdem kann ich Interferenzen erkennen – die Schatten, die Menschen anhaften, nachdem ihr freier Wille von einem Verbannten verändert wurde, die Spuren, die sie dabei hinterlassen.«
    Ich zog die Beine unter mir auf den Stuhl und mummelte mich fest ein. Fragen wirbelten mir durch den Kopf und ich war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis nach einer Antwort und dem überwältigenden Verlangen, wegzulaufen. Lincoln beobachtete mich mit besorgtem Gesicht, was alles nur noch schlimmer machte.
    »Und was bin ich?«, konnte ich mich nicht beherrschen zu fragen. »Und … und was meinst du mit ›wir können die Anwesenheit eines Verbannten wittern ‹?«
    Lincoln zögerte, als müsste er seine Worte jetzt mit Bedacht wählen.
    »Sag es mir einfach!«, fuhr ich ihn an.
    Er starrte mich einen Moment an, dann schaute er hinunter auf seine Füße. Ich spürte, dass er sich schämte, was mich nur noch zorniger machte – ich wusste, dass ihm klar war, was er mir angetan hatte, wie sehr er mich verletzt hatte.
    Ich stand auf und wollte nur noch raus hier. Pfeif auf die Regeln. Manchmal kam ein Punkt, an dem selbst ich davonrennen musste.
    »Ich muss los.« Ich stürzte zur Tür und schnappte mir meinen Schirm, der noch immer tropfnass in dem Eimer neben dem Eingang stand.
    »Vi, warte. Wir müssen darüber reden. Verbannte können dich jetzt wittern. Du musst wissen, wie du dich schützen kannst.«
    »Nein!« Ich war nicht daran interessiert. Ich befand mich im Fluchtmodus und es gab nichts, was ich dagegen hätte unternehmen können. Unsere Blicke trafen sich kurz, bevor ich die Tür öffnete und hinausging. Ich wusste, dass er den Zorn in meinen Augen sah, genau wie ich die flehende Angst in seinen erkannte.
    Die Tür fiel mit einem schweren Geräusch hinter mir zu und ich rannte die Treppe hinunter, wobei ich lauschte, ob mir Schritte folgten. Nichts. Ich war mir nicht sicher, ob ich erleichtert war oder nicht.
    Es nieselte noch, aber die Nachmittagssonne brach durch die Wolken. Ich machte mir nicht die Mühe, den Schirm aufzuspannen. Ich rannte nur.

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