Erwacht
die Entscheidung muss noch getroffen werden. Die letzte Reise auf dem Weg, ein Grigori zu werden, muss auf deinen freien Willen hin unternommen werden. Man nennt es die ›Zusage‹, was heißt, dass derjenige seine Engelsnatur annimmt.«
Das schien eindeutig genug. »Ich kann mich also einfach dagegen entscheiden?« Griffin war nicht schnell genug, seinen missbilligenden Blick vor mir zu verstecken. Ich machte mir nicht die Mühe, Lincoln anzuschauen.
»Ja, aber du musst wissen, dass Verbannte uns wittern können, wenn wir volljährig sind, und wir sie ebenfalls, und dann kommt es häufig zu raubtierhaften Reaktionen. Ebenso wie wir nicht immer ahnen können, ob es sich um Verbannte des Lichts oder der Finsternis handelt, können sie nicht immer spüren, ob wir uns für die Engelsnatur entschieden haben oder nicht. Wenn du mit all dem nichts zu tun haben willst, dann ist das deine Entscheidung, aber du wirst dann keinen Schutz haben und immer dem Risiko ausgesetzt sein, von einem Verbannten entdeckt zu werden, der dir Leid zufügen will.«
»Im Prinzip also die Wahl zwischen Pest und Cholera.« Ich versuchte es mit Sarkasmus, aber innerlich war ich wie gelähmt.
Griffin ignorierte den Kommentar. »Wir sind hier, um all deine Fragen zu beantworten, sobald du Gelegenheit hattest zu verdauen, was du bis jetzt weißt.«
Er nahm seinen Mantel und ging zur Tür. Dann wandte er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Übrigens wurde Lincoln nie darum gebeten, so viel Zeit mit dir zu verbringen. Es war seine Entscheidung, dir so viel Zeit zu schenken, das war nicht Teil irgendeiner ausgeklügelten Lüge. Du bist verletzt, weil dir Wissen vorenthalten wurde. Denk mal daran, wie sehr es ihn geschmerzt haben muss, dieses Wissen zu haben und zu wissen, dass dieser Tag kommen würde.«
Dann nickte er Lincoln zu und ging.
Ja, klar. Mir kommen die Tränen.
D ie Venen an der Innenseite meiner Arme schienen noch dunkler geworden zu sein, sie schimmerten jetzt fast schwarz. Auch das Muster hatte sich geändert. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass das unmöglich war, hätte ich gesagt, sie versuchten, etwas Bestimmtes darzustellen. Ich wollte Lincoln danach fragen, entschied mich aber dann, das Schweigen nicht zu brechen.
Er rutschte zur Sofakante vor, beugte sich zu mir herüber, ohne jedoch seine selbst gewählte Sicherheitszone zu verlassen, und deutete auf meine Arme. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, es ist eine Art Nebenwirkung.«
Er fuhr die Linien mit einem Finger nach. Es war nur ein weiterer Teil von mir, der eigentlich nicht mehr ich selbst war. Ein weiterer Teil, der mir ohne meine Zustimmung genommen worden war. Ich biss die Zähne zusammen.
»Hattest du … auch so etwas? Ich meine, Nebenwirkungen?« Ich schaute ihn beim Sprechen nicht an.
»Klar, ich habe Dinge anders empfunden, ich habe mehr wahrgenommen. Jeder erlebt es ein wenig anders, wenn er volljährig wird. Wir erben bestimmte Stärken und Fähigkeiten von unserem Engel-Elternteil. Aber normalerweise spüren wir wichtige Veränderungen erst nach der Zusage.« Wieder warf er einen Blick auf meine Arme. »Körperliche Zeichen wie diese habe ich vorher noch nie gesehen.«
»Elternteil?«, fragte ich. Der Gedanke, von einem Engel abzustammen, schoss mir durch den Kopf, und noch ehe ich mich zurückhalten konnte, lachte ich laut auf. Lachen war besser als schreien, oder?
Lincoln schaute mich verwirrt an. Ich konnte jetzt die Distanz zwischen uns fühlen. Als läge zwischen uns ein unsichtbarer Fluss und keiner fände einen Weg, ihn zu überqueren. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ich das noch wollte.
»Nun, ja. Natürlich nicht im herkömmlichen Sinne, aber wenn wir das Wesen eines Engels erhalten, dann muss uns der Engel-Elternteil tatsächlich einen Teil seiner selbst geben. Das kann er jedoch nur einmal tun.«
»Und? Soll ich dafür jetzt dankbar sein?«, ätzte ich. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen. »Kennst du deinen … Engel-Elternteil?«
»Nein. Keiner von uns kennt ihn.«
Mir fiel ein, dass Griffin etwas in der Richtung gesagt hatte, und fuhr für ihn fort: »Weil wir von einem Engel des Lichts oder einem Engel der Finsternis abstammen können. Also einen guten oder einen bösen Teil abbekommen haben könnten.«
Er nickte. »Ja, so ungefähr. Aber es ist die Natur eines Engels, die wir erhalten, nicht seinen Geist. Wir erhalten seine Stärken und Kräfte, aber nicht seine Moral oder seine
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