Erwacht
ELF
»Der Mensch hat keinen Körper, den man als von der Seele getrennt betrachten könnte, denn das, was Körper genannt wird, ist ein Teil der Seele, der durch die fünf Sinne wahrgenommen werden kann, welche in dieser Zeit den meistgenutzten Zugang zur Seele bilden.«
WILLIAM BLAKE
I ch rannte, solange ich meine schmerzenden Beine ignorieren konnte, aus Angst, mir, sobald ich stehen blieb, eingestehen zu müssen, dass ich nirgendwo hinkonnte. Seit Langem war ich nicht mehr in einer Situation gewesen, in der mein Zufluchtsort nicht Lincolns Wohnung gewesen war. Ich konnte nicht nach Hause gehen und einfach dort herumsitzen, allein – es ging einfach nicht. Ich dachte an Steph und wusste, dass sie darauf wartete, von mir zu hören.
Ich verlangsamte meine Schritte und zog mein Handy heraus. Steph war auf Schnellwahl Nummer zwei. Dad war Nummer drei und Lincoln Nummer eins. Sie waren die Einzigen, bei denen ich mir die Mühe gemacht hatte, sie zu speichern.
Sie ging beim zweiten Klingeln ran.
»Wird aber auch Zeit! Wie ist es gelaufen? Einzelheiten, Einzelheiten.«
Ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die mir bereits in den Augen brannten. »Nicht gut.«
»Oh, Süße. Das tut mir leid. Ich mochte ihn sowieso nie!«
Steph und ich hatten eine Regel. Man hielt immer zu seinen Freundinnen. Wenn sie einen Typ mochten, dann mochte man ihn auch. Wenn sie mit dem Typ Schluss machten, dann hasste man ihn auf der Stelle, es sei denn, die Anweisungen änderten sich. Sie hielt zu mir.
»Danke.«
»Was ist passiert?«
»Er hat mich angelogen … in Bezug auf wichtige Dinge.« Selbst als ich es aussprach, konnte ich es nicht fassen.
»So ein Mistkerl. Sag mir jetzt aber nicht, dass er eine Freundin hat.« Ich hörte, wie sie mit etwas Schwerem auf den Tisch schlug.
»Nein, nichts dergleichen.« Ich machte mich bereit, ihr alles zu erzählen. Ich wollte ihr das nicht verheimlichen, so wie man es mir verheimlicht hatte. Ich öffnete den Mund, um ihr die ganze elende Geschichte zu erzählen, angefangen vom Überraschungsgeschenk meiner Mum, aber dann überkam mich der Drang, das Thema zu vermeiden. Ich rang noch mit mir, aber letztendlich war alles, was ich herausbekam: »Er … er ist … einfach nicht die Person, für die ich ihn gehalten hatte.«
»Er hat aber nichts versucht, oder doch? Wenn doch, kann ich Jase und noch ein paar von seinen Kumpels Bescheid sagen, damit sie hingehen und ihn sich vornehmen. Ein paar von ihnen wären im null Komma nix fertig mit ihm.«
Ich fragte mich, ob das wirklich so wäre, aber ich wusste ihre Anteilnahme zu schätzen. »Nein. Er hat nichts versucht – außerdem habe ich ihm bereits selbst eine reingehauen.«
Sie brach in Gelächter aus und ich musste auch einen Moment lang lächeln. Es war lächerlich, dass ich versucht hatte, körperliche Gewalt gegen ihn einzusetzen.
»Schön für dich. Ich hoffe, du hast ihm ein blaues Auge verpasst!«, sagte sie mit vorgetäuschtem Draufgängertum. Steph hatte noch nie in ihrem Leben jemanden geschlagen.
»Ich glaube, den größten Schaden hat meine Hand davongetragen.« Ich bog meine rechte Hand. Sie tat immer noch weh von dem schlecht durchdachten Hieb.
Sie lachte erneut. »Ich lösche ihn aus meinen Kontakten, noch während wir reden.«
Ich nickte zustimmend, auch wenn sie mich nicht sehen konnte. »Lösch ihn ruhig.«
»Komm doch vorbei und wir machen uns einen Mädelsabend«, bot sie an. »Ich habe alles da – DVDs und Schoko-Minz-Eis.«
»Danke, Steph, aber ich glaube, ich muss allein sein.« Ich wusste, dass ich eine schreckliche Gesellschaft abgegeben würde. Die einzige Person, die ich im Moment ertragen konnte, war ich selbst – und das auch nur, weil ich in dieser Hinsicht ohnehin kein Mitspracherecht hatte.
Ich wanderte eine Ewigkeit ziellos durch die Stadt und wollte irgendwoanders sein – wollte jemand Anderes sein. Ich dachte über Griffins Worte nach. Es musste noch eine andere Erklärung geben, einen anderen Weg aus diesem Chaos. Aber irgendwie wusste ich, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Es war verrückt, all diese Dinge zu erfahren, zu entdecken, dass mein ganzes Leben eine Lüge gewesen war. Aber auch wenn ich mich durch das, was ich erfahren hatte, bedrängt fühlte, wusste ich tief in mir drin, dass das alles noch von etwas anderem überschattet wurde, etwas Schlimmerem – mir brach das Herz.
Schließlich weigerten sich meine Füße, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Ich bog um die
Weitere Kostenlose Bücher