Erwarte mich in Paris (German Edition)
ersten Sippenmitglieder waren aufmerksam geworden und kamen mir neugierig entgegen. Die Menschen, welche jetzt einen Halbkreis um den Wagen bildeten, kannte ich seit meiner Kindheit. Trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, als würden sie mich freundlich empfangen. Die Gesichter waren unbewegt, fast feindlich.
Tief atmete ich durch. Dann öffnete ich die Wagentür, stieg aus und stellte mich breitbeinig vor die Kühlerhaube. Selbstsicherer als ich mich fühlte, sah ich über die versammelten Menschen. Mir fiel die zerschlissene Kleidung ins Auge, die sie trugen. Auch die Wohnwagen, in denen sie wohnten, hatten ihre besten Zeiten schon hinter sich. Die Farben waren verblichen und der Lack hatte an vielen Stellen Risse oder war in großen Stücken abgeplatzt. Früher war mir das nie aufgefallen.
„Ich suche Piero“, rief ich mit lauter Stimme.
Noch mehr Menschen strömten herbei. Eine gebeugte Gestalt eilte auf mich zu. Unter dem bunten Kopftuch hingen wirre, graue Haarsträhnen hervor.
„Junge, dass meine alten Augen dich noch einmal sehen, macht mich so glücklich.“
Meine Großmutter umarmte mich. Ihre hagere, kleine Gestalt, und der Geruch nach ungewaschenem Körper schnürte mein Herz zusammen. Sie schien in meiner Abwesenheit geschrumpft zu sein.
„Gut siehst du aus. Wie ein feiner Herr.“ Sie strich mit ihrer gichtverkrüppelten Hand über meine Brust. Dann eilte ihr Blick über die Umstehenden, so als erinnere sie sich, wo wir waren. „Es ist nicht gut, dass du hier bist, Nikolito. Geh, solange du noch kannst. Du gehörst nicht mehr hierher.“
Sie wich zurück, als ein großer, dunkler Mann auf uns zustürmte. Paco!
„Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.“ Sein Schnauzer zuckte vor unterdrücktem Zorn. „Dass du es überhaupt wagst, dich hier blicken zu lassen. Du hast Schande über deine Familie gebracht.“
Ich würde mich gar nicht erst auf irgendwelche Vorwürfe einlassen. Wenn ich das tat, hatte ich verloren.
„Ich bin nur wegen Piero hier“, sagte ich. Obwohl meine Stimme laut war, spürte ich das Zittern in den Stimmbändern.
„Wegen Piero, unserem Juwel? Was willst du von ihm?“ Er lachte. „Ach, ich weiß schon, was Deinesgleichen von ihm will. Vergiss es!“ Er spuckte mir vor die Füße. „Verschwinde, solange du noch in der Lage dazu bist. Siehst du den Baum dort?“ Er wies auf den kahlen Baum in der Mitte des Platzes. „Du erinnerst dich doch noch, wozu man solche starken Äste gebrauchen kann? Oder? Willst du beenden, was du so feige unterbrochen hast? Der Baum wartet auf dich. Wir können sofort die unterbrochene Reinigung deiner schmutzigen Seele fortsetzen.“
Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Meine Knie wurden weich, und längst verdrängte Bilder kämpften sich einen Weg aus meinem Unterbewusstsein nach oben.
„Ich … ich schlage dir einen Handel vor“, sagte ich fieberhaft und konzentrierte mich auf mein Vorhaben.
„Was kannst du mir schon anbieten?“
Mit bebenden Fingern zog ich ein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. „Jetzt“, sagte ich und legte wieder auf.
Am Ende des Platzes heulte ein Motor auf. Scheinwerfer durchschnitten die aufkommende Dunkelheit, als ein glänzender Jaguar auf uns zurollte. Fünfzig Meter entfernt blieb er mit laufendem Motor stehen.
„Ich biete dir einen Jaguar XJ220. Die Fahrzeugpapiere liegen auf dem Beifahrersitz. Im Gegenzug lässt du Piero gehen.“
Pacos Augen funkelten. „Und wenn nicht?“
„Dann gehe ich – unbeschadet – und hole Piero später. Nur, dass ich dann kein Geschenk dalassen werde, sondern die Polizei mitbringe.“
„Was kann uns schon die Polizei?“ Paco hakte seine Daumen großspurig in seinen Hosenbund. Sein Blick huschte dennoch hinüber zu dem schwarzen Wagen.
„Die Polizei wird an einigem Interesse bekunden, was ich zu sagen habe.“
Paco machte eine Handbewegung, woraufhin mehrere Männer drohend auf mich zukamen. Warnend hielt ich das Handy hoch.
„Keinen Schritt weiter! Ihr lasst mich in Ruhe, ansonsten ruft mein Helfer, dort im Jaguar, die Bullen sofort. Ich freue mich schon darauf, was eine Razzia alles zutage fördern wird.“
„Das würdest du uns doch nicht antun. Wir sind immer noch deine Familie.“
Mein Blick huschte über meine Großmutter, die neben meinen Eltern stand. „Ich habe keine Familie mehr.“ Die Worte kamen mir leichter über die Lippen, als ich vermutet
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