Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
hochkletterte. Die Nachtwächter und die Wachhunde jedenfalls kamen nie ganz bis dort hinauf, wo er sich eingerichtet hatte.
Man hatte die Fassade des riesigen Gebäudes entfernt und es auch innen so weit entkernt, dass nur die Treppen und die Säulen übrig geblieben waren, alle Zwischenwände hatte manherausgerissen. Insgesamt eine Landschaft aus kaltem, grauem Beton, in der die Bauwagen und Schuttcontainer, die man ringsum aufgestellt hatte, wie bunte Legosteine wirkten.
Von hier aus konnte er nicht nur beobachten, wie der Tivoli langsam zu einer neuen Saison erwachte, er konnte auch den Rathausplatz, den H. C. Andersens Boulevard, einen Teil der Fußgängerzone und, zur anderen Seite hin, den Beginn der Vesterbrogade einsehen. Solange es einigermaßen warm blieb, war es die perfekte Bleibe – ein Ort, von dem aus er in geradezu idealer Weise die Aktivitäten des Clans in der City verfolgen konnte.
Der Lieferwagen kam an diesem Dienstagmorgen wie gewöhnlich um neun Uhr und setzte die Truppe ab, die dieses Mal aus Miryam, Romeo, Samuel und sechs anderen bestand. Sie berieten sich kurz und verteilten sich dann auf die Seitenstraßen der Strøget, Vestergade, Lavendelstræde und Farvegade, von wo aus sie in die verschiedenen Abschnitte der Fußgängerzone ausschwärmen konnten.
Von hier oben betrachtet kamen Marco seine früheren »Arbeitskollegen« vor wie Bakterien, die in das städtische Leben eindrangen, und in ihm wuchs die Scham, dass er einmal zu ihnen gehört hatte.
Zum x-ten Mal zermarterte er sich den Kopf, wie er vorgehen sollte. Ob er versuchen sollte, einige Clanmitglieder auf seine Seite zu ziehen? Damit nicht alle mitgerissen würden, wenn er Zola und seinen Vater anzeigte? Im Gegenzug konnten sie ihm verraten, wen Zola alles auf ihn angesetzt hatte und wann die Suche eingestellt würde. Oder sollte er es wagen, sein Geld aus Kays und Eivinds Wohnung zu holen, und aus Kopenhagen verschwinden? Er hatte von Aarhus und Aalborg gehört, zwei Städten in Jütland, die weit genug entfernt und groß genug waren, um dort vielleicht ein neues Leben zu beginnen.
Aber ein Neuanfang war in weite Ferne gerückt. Jetzt, wo diePolizei ihn gesehen und er obendrein das Plakat und das Amulett auf der Polizeiwache zurückgelassen hatte, war es ziemlich wahrscheinlich, dass sie nach ihm suchten. Und wenn sie ihn aufspürten? Dann konnte er sich nicht ausweisen. Würde er dann in einem Flüchtlingslager landen?
Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass er der Polizei im Gegenzug nichts anzubieten hatte. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass William Starks Leiche nicht mehr dort lag, wo er sie gefunden hatte, war groß.
Mit knurrendem Magen sah er sich in der Betoneinöde um. Das Gefühl der Einsamkeit traf ihn mit unfassbarer Wucht.
Miryam saß in der für sie so typischen Haltung vor dem schmiedeeisernen Zaun der Heiliggeistkirche. Von ihrer zaghaft ausgestreckten Hand und dem entblößten, verkrüppelten Bein fühlte man sich weder abgestoßen noch irritiert. Miryam hatte die seltene Gabe, mit ihrem Lächeln eine warme, vertrauensvolle Atmosphäre aufzubauen. In ihrem Blick spiegelte sich stilles Leid, aber auch ein eiserner Durchhaltewillen. Sie hatte einfach eine erstaunliche Ausstrahlung. Sogar die Polizei ließ sie unbehelligt. Hätte Miryam die Möglichkeit gehabt, einen Beruf zu erlernen, wäre bestimmt etwas Bedeutendes aus ihr geworden.
Aber die Wärme in ihrem Blick erlosch jäh und das Lächeln verschwand von ihren Lippen, als Marco sich voller Freude über das Wiedersehen zu erkennen gab.
»Hau ab, Marco«, zischte sie. »Alle suchen nach dir, und wenn sie dich finden, dann gnade dir Gott. Brauchst mich gar nicht erst anzuquatschen. Sieh zu, dass du wegkommst, und lass dich nicht mehr hier blicken.«
Marco ließ die Arme sinken. »Miryam, ich brauche deine Hilfe. Gib mir ein Zeichen, sobald sie nicht mehr nach mir suchen. Bitte!«
»Oh Mann, wie blöd bist du eigentlich? Glaubst du im Ernst,dass die irgendwann aufhören, nach dir zu suchen? Die hören erst auf, wenn sie dich haben, Marco. Und wenn du noch mal hier aufkreuzt, rufe ich die anderen. Obwohl, wer weiß, vielleicht tue ich das in jedem Fall.«
Sie stand auf, streckte mühsam das schlimme Bein und machte Anstalten weiterzugehen. Dabei hielt sie ihm eine Handvoll Münzen hin. Doch Marco wich mit erhobenen Händen zurück. Judasgroschen. Mit Reserviertheit und Ablehnung hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass sie,
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