Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
ausgerechnet sie, ihn verraten würde.
Kurz blieb er stehen und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie lieb sie zu ihm gewesen war, als seine Mutter ihn abgewiesen hatte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand grußlos.
Fünf Straßen weiter stützte er sich an einem Regenrohr ab, weil er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Geweint hatte er zuletzt, als Zola ihn zum ersten Mal geschlagen hatte. Seine Nase lief, Arme und Beine zitterten. Sein Zwerchfell krampfte sich zusammen, und ihm war, als müsse er sich übergeben.
Eine Passantin blieb stehen, legte ihm eine Hand auf die Schulter, beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie. Doch anstatt sich über ihr Mitleid zu freuen, zog er sich zurück, wischte sich die Augen ab und sagte nur: »Ist nichts.«
Später bereute er, nicht wenigstens Danke gesagt zu haben. Aber in diesem Augenblick war er nur von einem Gedanken erfüllt: Ab jetzt war jedes einzelne Mitglied des Zola-Clans Freiwild für ihn! Jetzt, wo er wusste, dass ihm sogar seine engsten Vertrauten von damals offen den Kampf angesagt hatten, würde er ihre Feindschaft gnadenlos für sich ausnutzen. Zwar hatte er sich geschworen, nicht mehr zu stehlen – aber Leute, die selbst stahlen, verdienten nichts anderes. Er würde Zolas Leute plündern, sich die Taschen füllen und den Bauch vollschlagenmit Dingen, die sie erbeutet hatten. So würde er sich fürs Erste seine Existenz sichern – und danach würde er sehen, dass er weiterkam im Leben.
Romeo und Samuel entdeckte er in Nyhavn, wo sie zwischen Scharen von schwedischen Touristen umtriebig waren. Da Samuel nicht mehr bettelte, war er offenbar befördert worden.
Marco hielt sich im Hintergrund und beobachtete die zwei bei ihrer Arbeit. Scheinbar zufällig stießen sie mit Passanten zusammen, fuhren ihnen blitzschnell in die Taschen und ließen das Diebesgut dann ebenso schnell in die Hände des anderen wandern. Das ging so unbemerkt vonstatten, dass sie sich nicht mal für ihre vermeintliche Ungeschicklichkeit entschuldigen mussten.
Marco kannte all diese Bewegungsabläufe in- und auswendig: das Rückversichern nach allen Seiten, die plötzlichen Richtungswechsel.
Samuel schlenderte hinterher und nahm die Beute entgegen. Sobald Romeo zugeschlagen hatte, tat er einen Schritt nach vorn, streckte die Hand in der Jackentasche vor, nahm das Erbeutete und zog die Hand zurück. Das Ganze war eine einzige fließende Bewegung.
Die großen Innentaschen seiner Jacke beulten schon aus: Der Tag war also erfolgreich. Bald würde Samuel Romeo durch ein Zeichen zu verstehen geben, dass es Zeit sei, zu pausieren und die Beute zu verstauen. Das war der Moment, auf den Marco wartete.
Außer dem Hauptbahnhof gab es in Kopenhagen nur noch wenige Orte, an denen man eine Tasche loswerden konnte, ohne Gefahr zu laufen, als Terrorist verdächtigt zu werden. Dazu gehörte der Erweiterungsbau der Königlichen Bibliothek, aufgrund seiner Quaderform und der glänzenden dunklen Fassade auch »Schwarzer Diamant« genannt. Dieses Gebäude steuerte Samuel jetzt an – gefolgt von Marco.
Die Schließfächer befanden sich im Erdgeschoss, in nächster Nähe der Schwingtüren und direkt neben den Toiletten. Letztere eigneten sich hervorragend, um dubiose Tascheninhalte unbehelligt in Plastiktüten umzufüllen.
Von der ebenfalls im Erdgeschoss gelegenen Buchhandlung aus beobachtete Marco, wie Samuel die Toilette mit einer vollen Plastiktüte in der Hand verließ.
Es dauerte eine Weile, bis Samuel den Schließfachschlüssel in der Jackentasche gefunden hatte. Vermutlich behielt er den stets bei sich, um sicherzustellen, dass ihm immer ein Fach zur Verfügung stand. Dann steuerte er den Schließfachbereich an, der zur Straße hinausging, stellte sich vor die rechte Wand, ziemlich in die Mitte, bückte sich und schloss ein Fach in der untersten Reihe auf.
Marco, der alles genauestens beobachtet hatte, merkte sich das Fach und zog sich hinter ein Bücherregal zurück.
In der nächsten Minute hatte sich Samuel wieder auf den Weg gemacht.
In Nyhavn warteten Romeo und neue Opfer.
Das Café der Bibliothek war voller Studenten mit ihren Laptops. Andere standen jenseits der Glaswand, blinzelten in die Sonne und genossen die Wärme. Um einen fünfzehnjährigen Jungen kümmerte sich hier niemand.
Einen Moment starrte Marco die Wand mit den Schließfächern an. Samuel musste die Nummer 163 benutzt haben. Das Schloss war simpel,
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