Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
aber wenn er es mit einem falschen Schlüssel zu öffnen versuchte, würde der Schlüssel abbrechen, das wusste er aus Erfahrung. Doch knacken konnte er es auch nicht, dazu fehlte es ihm an Werkzeug, und er mochte sich auch nicht mit der Ausrede, er hätte den Schlüssel verloren, an das Personal wenden.
Er klopfte mit dem Knöchel gegen das Schloss. Solide war es nicht, aber wenn er dagegentrat, würde das einen Heidenlärmmachen, und das Schloss würde nur nach innen gedrückt, aber nicht aufspringen.
Marco seufzte. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als sich den Schlüssel zu besorgen.
Am Kongens Nytorv holte er Samuel ein. Damit das Entwenden des Schlüssels unbemerkt vor sich ging, musste Marco für Tumult sorgen. Er entschied sich für einen üppig tätowierten Kleiderschrank von einem Mann, der wie Samuel zielstrebig auf die Touristenfallen und die billigen Kneipen von Nyhavn zusteuerte. Der würde garantiert nicht heimgehen, ehe das dicke Portemonnaie in seiner hinteren Jeanstasche nicht leer war. Vorausgesetzt natürlich, dass ihm nicht vorher einer wie Romeo über den Weg lief.
Während Marco lautlos hinter ihm herglitt, bereitete er seine linke Hand mit ein paar schnellen Fingerbewegungen auf ihren Einsatz vor. Auf sie musste gleich hundertprozentig Verlass sein. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze schlug er einen kleinen Bogen um das Opfer und zog diesem im Vorbeigehen das Portemonnaie aus der Tasche. Dann blieb er stehen, bis sich der Mann einige Schritte entfernt hatte, bückte sich und tat so, als hebe er das Portemonnaie auf, lief hinter dem Mann her und zog ihn am Ärmel.
»Hier«, sagte er und reichte ihm den Geldbeutel. »Den hat der da vorne gerade gestohlen. Ich hab gesehen, wie er ihn einem Komplizen zuwerfen wollte, aber ich war schneller.«
Stirnrunzelnd sah der Koloss in die Richtung, in die Marco deutete. Und dann war er mit einem Satz bei Samuel und riss ihn zu Boden.
Was sein ehemaliger Kumpel schrie, hörte Marco nicht, aber es war völlig klar, dass es ihm nicht half. Die Abstrafung erfolgte so unmittelbar und mit einer solchen Wucht, dass Samuel genug damit zu tun hatte, sein Gesicht mit den Händen zu schützen.
Marco hatte Übung im Ausrauben von Menschen, die auf dem Rücken lagen. Das hatte er zur Genüge getan, meist spät nachts bei Betrunkenen, und es war ihm nie sonderlich schwergefallen. Aber jetzt musste er erst warten, bis einer von den Zuschauern, die sich im Nu versammelt hatten, den aufgebrachten Mann von Samuel weggezerrt hatte. Das gab Samuel ein paar Sekunden, um aufzustehen und zur Seite zu treten.
Der vermeintlich Bestohlene wollte die Polizei rufen, doch die Umstehenden überredeten ihn, sich nachsichtig zu zeigen. Und als Samuel sich schließlich erleichtert durch den Zuschauerkreis schob, um schleunigst zu verschwinden, tauchte Marcos Hand in dessen Jackentasche. Samuel, erschrocken wie er war, spürte die leichte Berührung vermutlich nicht einmal.
Der Mann schäumte immer noch vor Wut, deshalb wartete Marco weder einen Dank noch einen Finderlohn ab. Der Inhalt des Schließfachs war ihm Belohnung genug.
In seinem Versteck kippte er den Inhalt der Plastiktüten auf den nackten Boden. Fast erschrocken starrte er auf die vielen bunten Dinge, die in dieser toten Betonlandschaft seltsam lebendig wirkten. Dann gab er sich einen Ruck und zog das Bargeld aus den Portemonnaies, ohne die Kreditkarten und Ausweise eines Blickes zu würdigen. Er hatte tatsächlich mehr als neuntausend Kronen in fünf verschiedenen Währungen in der Hand!
Die plötzlich weichende Anspannung ließ ihn laut auflachen. Dumpf hallte seine Stimme von den unverputzten Wänden wider. Aber als sein Blick dann erneut auf den Berg von Portemonnaies, schicken Handys und Uhren fiel, wurde es auf einmal ganz still in ihm. Drohend ragten die düsteren Betonflächen um ihn herum auf. Wie Suchscheinwerfer kamen ihm die hell erleuchteten Fenster des Hotels Palace und die Leuchtbuchstaben des Nachrichtentickers am Haus des Zeitungsverlags Politiken vor. Das Eigentum unzähliger fremder Menschen lag vor ihm. Und auch wenn nicht er es ihnen gestohlen hatte, sowusste er doch, dass er sich das Geld nicht aneignen konnte, ohne mitschuldig zu werden.
Das Gefühl war klebrig und widerwärtig, wie Hundekot unterm Schuh. Marco fühlte sich plötzlich wieder wie Abschaum, kein Stück besser als die anderen. Sicher, neuntausend Kronen waren viel Geld und würden lange reichen. Aber eines Tages würden sie
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