Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
gefragt. So lange sitzen zu bleiben, wagte er dann doch nicht. Mørck und die Bibliothekarin hatten schließlich schon das Dessert bestellt.
Er betrachtete das Portemonnaie. Ein schmuckloses flaches Ding, das sich mit der Zeit den Rundungen des Körpers angepasst und bereits die eine oder andere aufgelöste Naht hatte. Abgewetzt und völlig ungeeignet für die modernen Zahlgewohnheiten. Wann hatte er zuletzt ein Portemonnaie ohne Schlitze für die ganzen Karten gesehen, eines, das im Grunde nur aus einem einzigen Reißverschlussfach bestand? Marco musste seinen Zettel mehrfach falten, ehe er ihn zwischen die alten Quittungen und angestoßenen Visitenkarten irgendwelcher Menschen stecken konnte. Mørck selbst schien keine Visitenkarte zu haben.
Für einen Moment stand Marco unschlüssig vor der Treppe nach oben, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er hob langsam den Kopf und sah sich seinem alten Arbeitgeber Munthe gegenüber, dessen Büro im Keller lag.
»Was hast du hier zu suchen, Marco? Haben wir uns nicht darauf geeinigt, dass du dich in Zukunft von hier fernhältst? Du ziehst Menschen an, die ich hier nicht sehen will.«
Munthe war eigentlich ganz in Ordnung, aber er hatte seine Prinzipien und zögerte nicht, sie durchzusetzen.
»Ich wollte nur kurz die Toilette benutzen, ich dachte, das wäre okay«, sagte Marco mit Unschuldsmiene und steuerte schnell auf die WCs zu. Dabei nahm er zur Kenntnis, dass Munthe bereits seine Jacke angezogen hatte.
Und richtig, keine zehn Minuten später ging dieser wie üblich nach Arbeitsschluss in das Geschäft nebenan, um seine Frau abzuholen. Marco begab sich sofort nach oben und verbarg sich hinter einer der Säulen.
Von dort aus konnte er ihren Tisch sehen. Und so erlebte er wie in einem Stummfilm mit, wie der Kellner Mørck die Rechnung vorlegte und wie dieser immer hektischer in sämtliche Taschen griff. Er gestikulierte wild, erst aufgeregt, schließlich beschämt. Das hatte Marco nicht beabsichtigt. Wäre er nicht Munthe begegnet, hätte er das Portemonnaie längst zurückgesteckt. Aber nach einer Weile legte die Bibliothekarin Mørck beruhigend eine Hand auf den Arm, holte ihr eigenes Portemonnaie hervor und bezahlte.
Erregt diskutierend, kamen die beiden ganz nahe an Marco vorbei, dessen Hand das tat, was sie so gut wie kaum eine andere konnte.
25
Um Punkt zwölf stand Eriksens Sekretärin vor ihm und hielt ihm den Ausdruck einer gescannten Versandquittung hin. Die UPS-Sendung war also auf dem Weg. Aufmerksam las René die Quittung: eine Luftpolster-Versandtasche, 320 x 455 mm, 600 Gramm. Das konnte hinkommen.
Er lehnte sich zurück. Vor seinem inneren Auge sah er diesen nur sechshundert Gramm wiegenden, immensen Reichtum. Die Zukunft lag in gleißendem Licht vor ihm – Luxus, schöne Frauen, Müßiggang, ewiger Sommer. Jetzt musste er die Papiere, ebenso wie die Karrebæk-Aktien, nur noch bestmöglich verkaufen – und dann: Adieu, Gattin und Kinder, die ihn eh längst abgeschrieben hatten. Adieu, schäbiges Auto und armseliges Haus. Adieu, Schmuddelwinter und langweilige Kollegen. Adieu, Netto und Aldi, adieu, Warteschlangen. Das Tor zur Zukunft wartete nur darauf, aufgestoßen zu werden.
Sein Blick schweifte über die Papierstöße in den Regalen, über meterweise belanglose Akten, und er konnte nicht anders: Er brach in schallendes Gelächter aus. Bald konnte er auf den ganzen Krempel scheißen.
Wenn er so lachte, bekam seine Frau immer Gänsehaut. Herrjesses, wie freute er sich darauf, ihr lachend den Kopf zu tätscheln und Tschüs zu sagen.
Er schwelgte noch in dieser Vorstellung, als plötzlich seine Sekretärin wieder vor ihm stand und ihm eine Mappe reichte.
»Sie haben mir eine falsche Akte auf den Schreibtisch gelegt. Sie enthält zwar Budgetunterlagen für das Projekt in Burkina Faso, nur nicht die für dieses Jahr, auch wenn das vorne draufsteht. Dürfte ich um die richtigen Unterlagen bitten?«
René schüttelte verärgert den Kopf. Es kam nicht oft vor, dass er Dinge vertauschte.
»Ich werde beim nächsten Mal genauer hinsehen«, versprach er.
Tatsächlich allerdings ging René E. Eriksen in diesem Augenblick ein Licht auf. Er starrte auf die UPS-Quittung. ›Auch wenn das vorne draufsteht …‹, dröhnte es in ihm nach.
Wer zum Teufel garantierte ihm denn, dass der Inhalt der Versandtasche der war, den er erwartete?
Teis Snap am anderen Ende der Leitung klang nicht sonderlich begeistert. Er war seit sechs Uhr Ortszeit auf den
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