Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
wohnt er selbst dort, vielleicht ist er dorthin unterwegs?«
»Sie wohnen also in Allerød? Das ist ja ein Ding!«
»Wieso? Sie etwa auch?« Merkwürdig beunruhigt dachte er daran, dass sie womöglich gleich denselben Heimweg hatten.
Sie lächelte. »Nein. In Værløse. Sozusagen bei Allerød um die Ecke.«
»Wann machen Sie Feierabend?«, platzte es aus ihm heraus, und er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was zur Hölle machte er da? Was sollte diese idiotische Frage? Fehlte bloß noch, dass er sich als Nächstes erkundigte, wie sie wohl nach Hause …?
»Wie kommen Sie nach Hause?«, hörte er sich fragen.
»Tja, Sie könnten mich zum Beispiel fahren.« Wieder lachte sie laut auf. Ganz ernst meinte sie es wohl doch nicht.
Carl holte tief Luft. Gab es neben der Unendlichkeit des Universums etwas, das schwerer zu begreifen war als der Humor einer Frau?
Carl blickte zu Assad. Der lächelte hintergründig. Was er wohl dachte?
»Was würden Sie davon halten, wenn wir vielleicht zusammen essen gingen?«, fuhr sie fort. »Ich habe ziemlichen Hunger. Und bei der Gelegenheit könnten Sie mir ja erzählen, was Sie über den Jungen wissen. Man ist ja nicht frei von einer gewissen Neugier. Was meinen Sie?«
***
Marco wartete drüben auf der anderen Straßenseite auf sie, versteckt hinter einem grünen Telefonverteilerkasten und ein paar Autos, die vor dem alten Rotkreuzgebäude parkten.
Von hier aus hatte er den Polizeiwagen auf dem Parkplatzim Blick. Gleich würden sie herauskommen und wegfahren. Er wollte nur sehen, was sie als Nächstes taten.
Überrascht stellte er fest, dass die Polizisten und die Bibliothekarin zusammen aus dem Haupteingang traten. Carl Mørck und sein Mitarbeiter trennten sich, und Mørck begleitete die Bibliothekarin in Richtung Lille Triangel.
Sie gingen zum Café Dag H, wo Marco eine Zeit lang für ein paar Kronen zwischen den Tischen gefegt hatte. Die Ecke, in die sie sich drinnen setzten, konnte man allerdings von draußen nicht einsehen.
Er überlegte, ob er sofort seinen nächsten Schritt tun sollte. Die Gefahr, dass man ihn entdeckte, war am größten, wenn das Lokal sehr voll oder ziemlich leer war, aber gerade schien der Moment günstig.
Er wartete ein paar Minuten, dann ging er an der Bar vorbei und nickte den Angestellten freundlich zu. Zum Glück war kein bekanntes Gesicht dabei.
Der Polizist und die Bibliothekarin saßen ganz hinten links vor einem kleinen Podest, auf dem zwei Sessel standen. Sie hatten die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Köpfe zusammengesteckt. Es machte fast den Eindruck, als würden sie sich schon ewig kennen.
Carl Mørck wirkte anders als die beiden Male, die Marco ihn zuvor gesehen hatte. Das Mürrische war wie weggeblasen, er sah aus wie viele dänische Männer, wenn sie flirteten – fast ein bisschen tölpelhaft. Merkwürdigerweise stiegen die Frauen darauf ein, auch diese hier. Aber egal, für Marco konnte es gar nicht besser laufen.
Er ließ seinen Blick durch das Café schweifen. Eine entspannte Atmosphäre wie hier war ideal für einen Dieb: angeregte Gespräche, Scherze zwischen Freunden, ineinander verflochtene Finger. Taschen auf dem Fußboden, Mäntel und Jacken über den Stuhllehnen, Handys auf dem Tischrand.
Marco richtete sich auf und glitt wie ein Schatten in den Gangzwischen Bar und Kuchenvitrine. Wenn es ihm gelang, sich in den Sessel auf dem Podest hinter Carl Mørck zu setzen, ohne dass die Bibliothekarin ihn entdeckte, könnte er das Portemonnaie aus Mørcks Jacke ziehen, die über der Stuhllehne hing.
Er rückte immer nur meterweise vor und brauchte dadurch eine ganze Weile bis zu den Säulen, die ihn auch vor den übrigen Gästen verbargen.
Als er schließlich mit dem Rücken zu Carl Mørck saß, war er den beiden so nahe, dass er die wachsende Intimität zwischen ihnen spürte. Sie sprach, und er schien nur Augen und Ohren für sie zu haben.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihre Hand wie zufällig neben seine auf den Tisch legte. Und wenn Mørck dann seine Hand auf ihre schob, könnte Marco, von einem innerlichen Tusch begleitet, seine Hand in Mørcks Jackentasche stecken, ohne dass die beiden es bemerkten.
Nur zwei Minuten später stand er in einer der Toilettenkabinen im Keller und hielt die offene Geldbörse in der Hand. Er hatte sie eigentlich zurückstecken wollen, sobald er mit ihr fertig war, aber dann war ein Kellner an seinen Tisch gekommen und hatte ihn nach seinen Wünschen
Weitere Kostenlose Bücher