Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
durch nichts zu bremsen.
Er blickte durch die Tür ins Freie. Dort hatten sich staunend einige der unsäglichen Touristen eingefunden. Ob sie glaubten, gerade rechtzeitig zur Inszenierung der täglichen Westernshow gekommen zu sein? Jedenfalls klatschten einige begeistert Beifall. Nur diese gewaltige schwarze Frau, die aussah wie eine Kreuzfahrtpassagierin, schien sich nicht zu amüsieren. Grimmig packte sie ihre Tasche und ging.
Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, trat der Drogenfahnder zu ihnen und reichte Assad und Rose, die mit Tilde zu ihnen gestoßen war, die Hand.
»Mikkel Øst«, stellte er sich vor. Man sah ihm an, dass er mit der Entwicklung der Dinge nicht hundertprozentig zufrieden war. Vermutlich war er erleichtert und verärgert zugleich, denn nun würde er seine Waffe abgeben müssen, bis die interne Untersuchung des Schusses abgeschlossen war. Die vier Monate im Drogenmilieu von Christiania waren kein Spaziergang gewesen, und wenn die Tarnung dann just in dem Moment aufflog, in dem sich erste Ergebnisse einstellten, war man natürlich nicht gerade erbaut.
Carl bedankte sich bei dem Kollegen. »Vielleicht kreuzen sich unsere Wege mal wieder. Wenn ich was für dich tun kann, lass es mich wissen.«
Dann verließen sowohl Mikkel Øst als auch die Sanitäter mit dem Afrikaner den Tatort.
Marco und Tilde schienen sich buchstäblich aneinander festzuhalten. Das, was sie hatten durchmachen müssen, verarbeiteten sie offensichtlich am besten gemeinsam.
»Da gäbe es noch etwas, was wir tun müssen«, sagte das Mädchen nach einer Weile. »Carl, würden Sie bitte meine Mutter anrufen und ihr mitteilen, dass wir uns alle draußen in Brønshøj bei Williams Haus treffen? Marco und ich müssen Ihnen etwas zeigen.«
Eine halbe Stunde später lagen sich Tilde und ihre Mutter in der Einfahrt von William Starks Haus in den Armen.
»Was haben sie mit dir gemacht, Tilde?« Malene Kristoffersen war immer noch erschüttert.
»Die haben mir eine Spritze gegeben, und dann war ich weg, bis sie mich irgendwann geweckt haben. Da saß ich auf einer Bank vor einem Imbiss, und es hat bestimmt zehn Minuten gedauert, bis ich wieder laufen konnte. Es war so ähnlich wie bei einer Narkose. Da ist einem hinterher ja auch leicht übel. Aber jetzt fühle ich mich wieder okay.«
»Und du?« Malene sah Marco an.
Er nickte. »Alles wieder in Ordnung. Nur meine Beine sind noch etwas taub.«
Was für ein unfassbares Glück, dass es nur die Beine sind, dachte Carl. Es war lange her, dass er sich derart erleichtert gefühlt hatte.
»Und was wolltet ihr uns nun zeigen?« Rose kehrte zur Tagesordnung zurück.
Tilde holte tief Luft. »Kommt mit.« Sie ließ ihre Mutter los und ging um das Haus herum zur Terrasse.
»Marco, du machst das, ja?«
»Soll ich wirklich?«
Sie nickte.
Daraufhin hob Marco die Steinplatten an, eine nach der anderen, präsentierte die Fundstücke, und abwechselnd erzählten beide, wie sie die Verstecke entdeckt hatten.
Fünf weiße Plastikdosen, der Nachlass eines Toten.
Carl schüttelte den Kopf und schaute hinüber zu Rose und Assad. Was für eine skurrile Entwicklung! Angefangen hatte es mit dem Fahndungsplakat eines Mädchens. Endete es nun mit ein paar vergrabenen Tupperdosen? Polizeiarbeit war bisweilen wie Lose aus einer Lostrommel ziehen. Man hoffte immer auf den Volltreffer zwischen den Nieten.
Der Blick, mit dem Marco Tilde ansah, schien zu sagen:Mehr brauchen wir denen nicht zu zeigen. Aber Tilde nahm eine Dose nach der anderen und erklärte den Erwachsenen den Inhalt.
Malene Kristoffersen musste sich am Haus abstützen, und jemand holte ihr einen Stuhl. Dort saß sie nun mit dem Schmuck und dem kleinen Notizbuch auf dem Schoß und versuchte, die Erkenntnis zu verdauen, wie systematisch ihr Lebensgefährte betrogen hatte. Als Tilde anfing, ihn zu verteidigen, krampften sich Malenes Hände nur noch fester um das Notizbuch. Scham und Enttäuschung spiegelten sich in ihrem Gesicht, offensichtlich fühlte sie sich zutiefst verraten.
»Ich glaube, Sie sollten dafür sorgen, dass dies hier an seinen richtigen Ort kommt«, sagte sie schließlich und reichte Carl den Stoß Papiere mit dem Briefkopf des Ministeriums.
Carl blickte kurz auf das oberste Blatt, dann nickte er. Genau das, was sie angenommen hatten. Und trotzdem war William Stark, auch wenn er das Ministerium und den dänischen Staat unbestritten betrogen hatte, nur ein kleines Licht gewesen – verglichen mit seinem Chef. Der
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