Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
kniete er sich neben die reglose Gestalt und begann mit Herzmassage und Beatmung. Es war Jahre her, dass er das zuletzt hatte tun müssen, und damals war das Mädchen, ein Unfallopfer, gestorben. Sämtliche Bilder waren schlagartig wieder präsent, die zarte Haut der Kleinen, die Verzweiflung der Mutter, die Sanitäter, die Carl behutsam weggezogen und weitergemacht hatten. Er hatte lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Wenn Marco starb, würde ihn das nie mehr loslassen, das wusste er.
In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und richtete seinen Blick nach oben zu der Leinwand mit der Karikatur, die sich in der Zugluft leicht vorwölbte. Es wirkte fast, als ob sich der Mund des ehemaligen Staatsministers öffnete. Verrückt, dachte Carl, dass man etwas so Belangloses in einer solchen Situation überhaupt registriert.
»Komm schon, Marco, nun komm«, flüsterte er. Unterdessen kippte Assad in der Halle alle möglichen Gegenstände um,während sich der Gürtelmann immer noch in dem luftigen Büro unter der Decke zu schaffen machte.
»Hier oben ist der Kerl nicht!«, rief er ihnen durch ein offenes Fenster zu.
»Und hier unten gibt es keine anderen Ausgänge, er muss also noch irgendwo sein«, rief Assad aus dem hintersten Winkel der Halle.
Carl fuhr mit seinen Bemühungen fort, Beatmung und Herzmassage im Wechsel.
»Ruf einen Krankenwagen, Assad«, rief er. »Ich hab Angst, dass wir Marco verlieren. Ich weiß nicht, was sie ihm gegeben haben, ich weiß nicht mal, ob er noch lebt.«
»Ouch, that hurts«, flüsterte da eine Stimme.
Carl sah nach unten und blickte in ein gequältes Gesicht und Augen mit riesigen Pupillen.
»Du brichst mir noch die Rippen.« Marcos Stimme war kaum zu hören.
Im selben Moment öffnete sich der Mund des überdimensionierten Gesichts oben an der Wand, der Afrikaner glitt heraus und stürzte sich die drei, vier Meter nach unten. Kurz sah er sich desorientiert um, aber in der nächsten Sekunde hatte er sich schon wieder gefangen.
»Da ist er, beeilt euch! Los!«, rief Carl und sprang auf. »Bleib liegen, Marco!«
Kampfbereit wandte er sich dem Afrikaner zu. Doch der, kaum wieder auf den Füßen, richtete bereits eine Pistole auf ihn.
Das war’s jetzt, dachte Carl, und eine merkwürdige Ruhe erfüllte ihn. Er hob die Arme und sah den Mann auf sich zukommen. Doch als der nur noch wenige Schritte entfernt war, senkte er die Pistole und zielte auf Marco.
In diesem Augenblick krachte ein Schuss, der Carl zusammenfahren ließ und eine Ewigkeit von den hohen Wänden widerzuhallen schien. Als Carl realisierte, dass die Pistole des Afrikaners verschwunden war und dessen Finger stark bluteten,schaute er nach oben. Am Fenster des Büros stand der gürtellose Christianiter mit einer Pistole in der Hand.
Erst da erkannte Carl den Mann, er gehörte zum Drogendezernat vom City-Revier.
»Ich komme runter«, rief er, und weg war er.
»Achtung!«, schrie Marco im selben Moment, und Carl fuhr herum. Mit einem Messer in der unversehrten Hand setzte der Schwarze gerade zum Sprung an.
Der Schatten, der von der Seite her auf Carl zuflog, kam gleichermaßen überraschend. Assad. Wie entfesselt zielte er aus einer Drehung heraus mit einem Fersentritt nach dem Gesicht des Afrikaners. Aber auch der Schwarze beherrschte diese Kunst, er sprang und rotierte gleichzeitig, sodass ihre Füße gegeneinanderprallten. Assad kippte nach hinten weg, während der Afrikaner stehen blieb und nun das Messer zum Wurf hob.
Der Kerl ist ja vollkommen wahnsinnig, der reinste Kampfroboter, dachte Carl noch, als dem Mann plötzlich das Messer aus der Hand fiel und sein Körper vollkommen schlaff wurde. Er wankte zur Seite, griff, nach Halt suchend, ins Leere und sank zu Boden. Totaler Knock-out. Es war kein Ton zu hören gewesen.
Was zum Teufel ist hier los? Carl drehte sich zu Assad und dem Drogenfahnder um. Lächelnd hielt Assad einen Gegenstand in die Luft.
War das nicht eine ganz gewöhnliche, vielleicht etwas größere Schraubenmutter?
»Sobald er aufsteht, kriegt er noch eine, von den Dingern gibt’s hier reichlich«, sagte Assad und kramte in einem Kasten mit rostigen Bolzen, Schraubenmuttern und Beschlägen.
Kreidebleich stützte sich Marco auf die Ellbogen. »Tilde?«, war alles, was er sagte.
»Der geht’s gut. Rose ist bei ihr.«
Da machte sich ein Lächeln auf Marcos Gesicht breit. »Ich will zu ihr.«
Carl war sprachlos: Die Entschlossenheit dieses Jungen war wirklich
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