Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
herumfuchtelte – ehrlich gesagt wuss te ich damals gar nicht richtig, was ein Diarium eigentlich war –, dorthinein notierte sie jedenfalls alle missliebigen Äußerungen ihrer Mitmenschen. Ich erinnerte mich auch, dass der Bau der Rinderoffenställe, eine der eklatanten Fehlentscheidungen der SED-Landwirtschaftspolitik jener Jahre, in dem Buch eine Rolle spielte. Doch ich war mir nicht sicher, ob der Autor den Bau dieser Ställe nun befürwortet oder abgelehnt hatte. Vielleicht lag es daran, dass dieser Punkt auch im Unterricht ein bisschen undeutlich geblieben war.
Nach der Oberschule war bei mir erst einmal Schluss mit Strittmatter. Ich las weder »Pony Pedro« noch den »Schulzenhofer Kramkalender«. Auch die beiden ersten Bände des »Wundertäters« müssen an mir vorbeigegangen sein. Jetzt widmete ich mich all den Schriftstellern, die ich bis dahin versäumt hatte: Hemingway und Kafka, Grass, Böll, Frisch undSteinbeck, Sartre und Dürrenmatt, deren Werke nach und nach als Lizenzausgaben in der DDR herauskamen oder mich auf anderem Wege erreichten. Von Zeit zu Zeit las oder hörte ich etwas über Erwin Strittmatter. Ich wusste, dass er mit seiner Familie auf dem Lande lebte, auf einem Bauernhof, und dort Pferde züchtete. Auf Fotos in Zeitungen und Zeitschriften wirkte er meist ein wenig verträumt und schüchtern, und er sah dem bekannten Schauspieler Erwin Geschonneck ziemlich ähnlich.
Erst im Jahr 1980 kam mir wieder ein Roman von Erwin Strittmatter in die Hände, der dritte Band des »Wundertäters«. Offenbar hatte mich jemand auf das Buch aufmerksam gemacht. So lief das doch damals: mündlich weitergegebene kurze Bemerkungen, Gerüchte über ein Beinahe-Verbot. Es muss mir gelungen sein, eines der raren Exemplare zu erlangen. Ich las die Geschichte gespannt und berührt. Sie traf genau meinen Nerv. Strittmatters vorsichtige, subtile Abrechnung mit dem Stalinismus der fünfziger Jahre passte zu dem Prozess der inneren Distanzierung, den ich zu dieser Zeit durchmachte. Zu einer offenen Auflehnung reichte es noch lange nicht, aber ich begann viele der bisher für unverrückbar gehaltenen Werte zu hinterfragen und konnte mich dabei mit diesem Stanislaus Büdner identifizieren, der sich Stück für Stück frei macht von seinem Glaubens- und Dogmen ballast, um die Welt endlich mit eigenen Augen zu sehen. Über den seltsamen Schluss des Buches, in dem eine Agentin aus dem Westen das brisante Manuskript von Stanislaus Büdner rauben will und dabei – in Notwehr – von ihm erschossen wird, habe ich mir wohl kaum Gedanken gemacht. Vielleicht weil diese abrupte Wendung nicht zu dem passte, was ich in dem Buch suchte oder finden wollte. Nach einem erneuten Blick in den »Wundertäter III« scheint mir jedoch, dass dieser unschuldige »Mord aus Notwehr«, wie der Autor selbst die Szenein seinem Tagebuch deutete, eine eigene Logik besitzt. 1 Die führt uns eher weg von Stanislaus Büdner und hin zu Erwin Strittmatter und den bisher weniger bekannten Seiten seiner Biographie.
Nicht lange nachdem ich den Roman gelesen hatte, wurde ich zufällig auf der Leipziger Buchmesse von Fritz Pleitgen, dem damaligen ARD-Korrespondenten in Ostberlin, angesprochen, der sich mit einem Kamerateam in der Messehalle postiert hatte, um die Besucher nach ihrer Meinung über die aktuelle DDR-Literatur zu fragen. Ich erzählte Pleitgen vom dritten Band des »Wundertäters«, wie beeindruckt ich sei, dass dort Geschehnisse vorkämen, die bisher in der DDR-Literatur mit dieser Offenheit nicht behandelt worden seien. Doch offensichtlich wollte mein Interviewer das nicht hören. Er ging darauf gar nicht ein, sondern fragte mich schließlich ganz direkt nach Schlesinger, Kunert, Loest und anderen Autoren, die kurz zuvor in die Bundesrepublik ausgereist waren. Mit einem unbehag lichen Gefühl im Bauch – aber nun konnte ich ja nicht mehr zurück – sagte ich dazu einige Sätze. Als ich mir einige Tage später die Sendung im Fernsehen – wahrscheinlich war es das Kulturmagazin »Titel, Thesen, Temperamente« – anschaute, war alles, was ich zum »Wundertäter« gesagt hatte, weggeschnitten, und nur meine eher ausweichenden Bemerkungen über die in den Westen gegangenen Autoren wurden gesendet. War das der enge Blickwinkel von Pleitgen, der sich mit der DDR-Literatur vermutlich nicht auskannte und deshalb einzig auf die ausgereisten Schriftsteller fixiert war? Wurde Strittmatter als kritischer Autor im Wes ten kaum wahrgenommen, weil
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