Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
Fleisch, und zwei Verkäuferinnen bedienen. Lillian
wartet, bis alle Kunden das Geschäft verlassen haben. Als sie die Türe öffnet,
geht die Ladenglocke und sofort fragt eine der beiden Verkäuferinnen:
»Bitte schön, was möchten Sie?«
»Ich möchte Metzgermeister Karing sprechen.« Als der Meister seinen
Namen hört, senkt er die Axt und schaut sie fragend an. »Ich möchte gern mit
Ihnen sprechen, Herr Karing. Aber bitte unter vier Augen.«
»Mit mir?« Der große Mann lacht.
»Sie sind Norwegerin, nicht wahr? Und wollen mich unter vier Augen
sprechen? Da bin ich aber gespannt. Gehen wir also in mein Büro.«
Dort setzt er sich hinter seinen Schreibtisch. »Und worum geht es
nun, kleine Norwegerin?«
Als Lillian erzählt, dass sein Name in einem Brief ihres deutschen
Verlobten steht, runzelt er die Stirn. »Ich habe überhaupt keine Verbindungen
nach Deutschland. Meine Frau ist zwar Deutsche, aber sie lebt schon seit 30
Jahren in Dänemark. Ihre einzige Verbindung zu Deutschland ist ihr kranker
alter Vater, der in Flensburg lebt. Wir haben mehrmals versucht, ihn zu uns zu
holen, weil die Not in Deutschland so groß ist. Aber er ist ein deutscher
Bürger, und Sie wissen ja, was das heute bedeutet.«
Karing ruft nach seiner Frau. Die Bürotür geht auf und eine Frau mit
rosigen Wangen und kurzen lockigen Haaren steht im Türrahmen.
»Emma, dies ist ein norwegisches Mädchen, das zu seinem Verlobten
nach Deutschland will. Dort ist jemand, der meint, dass wir ihr helfen können,
irgendwie über die Grenze zu kommen. Unser Name wurde in einem der Briefe
erwähnt, die sie aus Deutschland bekommen hat. Kannst du das verstehen?«
»Nein, überhaupt nicht.« Frau Karing betrachtet Lillian nachdenklich.
Es ist ganz still im Zimmer. Nur die Uhr auf dem Schreibtisch tickt. Lillian
nimmt den Brief von Helmut aus der Reisetasche und liest ihn noch einmal durch.
»Hier steht noch ein weiterer Name – Schlohfeld.« Sie reicht den
Brief an die Frau des Metzgers.
»Schlohfeld, Schlohfeld … Der Name kommt mir allerdings bekannt vor.
War das nicht der Lokomotivführer, der früher einmal in dem Haus von meinem
Vater gewohnt hat? Mein Gott, das sind sicher über 25 Jahre her, seitdem ich
diesen Schlohfeld das letzte Mal gesehen habe. Carl, das muss doch etwas
bedeuten?« Sie überlegt kurz. Dann fasst sie Lillian herzlich am Arm.
»Wir werden gleich zu Mittag essen. Sie, nein – du bist bei uns
willkommen. Tu so, als wärst du bei uns zu Hause. Wir werden versuchen, alles
für dich zu tun. Du wirst natürlich auch hier wohnen.«
Ihr Mann schaut sie überrascht an. »Du weißt, Emma, wir müssen sehr
vorsichtig sein. Bei unerlaubtem Grenzübertritt drohen hohe Strafen. Die ganze
Angelegenheit muss absolut unter uns bleiben.«
»Bleibt sie auch, Carl. Wir haben zwar eine Hausgehilfin und zwei
Verkäuferinnen, die alle mit Grenzsoldaten befreundet sind. Und weil die auf
keinen Fall erfahren sollen, warum unser Gast wirklich hier ist, werde ich
ihnen sagen, dass die Eltern von Lillian schon seit langem unsere Freunde
sind.« Sie schaut Lillian an. »Ich mag dich, ich habe ganz stark das Gefühl,
dass es richtig ist, dir zu helfen.«
Nach dem Essen fährt Carl Karing mit Lillian zum Bahnhof, um die
Koffer aus der Gepäckaufbewahrung abzuholen. »Drei Koffer! Wie willst du die
bloß über die Grenze bekommen?«
In dem Zimmer, das sie von den Karings bekommen hat, packt Lillian
die Kleidung für die nächsten Tage aus. Dann werden die Koffer auf dem Speicher
versteckt, damit sich niemand wundert, warum der Gast mit so viel Gepäck
angereist ist.
»Falls deine Reise nach Deutschland übrigens nicht gelingen sollte«,
sagt Carl später beim Kaffee, »ich hätte in Kopenhagen auch einen Sohn, der
eine Frau sucht.«
Lillian erschrickt. Doch dann merkt sie, dass es nur ein Scherz
gewesen ist.
In der Küche umarmt sie Emma. Es tut ihr gut, dass diese fremden
Menschen so lieb zu ihr sind. »Wir haben uns immer eine Tochter gewünscht«,
sagt Emma. Und dann fügt sie plötzlich auf Deutsch hinzu: »Jetzt bist du für
eine Zeitlang eben unsere Tochter.« Emma lächelt. »Deutsch ist schließlich
meine Muttersprache.«
Am nächsten Tag hilft Lillian im Haus und auch im Garten. Es ist
schön, sich abzulenken und zu arbeiten. Aber immer wieder ist sie in Gedanken
damit beschäftigt, sich zu fragen, wie es wohl weitergehen wird. Was ist mit
dieser Telefonnummer in Flensburg? Sie muss auf jeden Fall versuchen, bald
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