Erzaehl es niemandem
Lillian
drückt sich gegen die Wand, denkt an die aufdringlichen Blicke des
Stadtkommandanten im Büro, er darf sie auf keinen Fall entdecken.
Die Abfahrt ist eigentlich für 17 Uhr vorgesehen, aber wegen eines
U-Boot-Alarms werden erst um 20 Uhr die Leinen gelöst. In den Korridoren stehen
die Passagiere dicht gedrängt und die Schlange vor dem Schalter, wo die Kabinen
vergeben werden, ist lang. Lillian bittet eine Frau, auf ihre Koffer zu achten
und sucht sich auf dem Oberdeck eine windstille Ecke. Sie will mitbekommen,
wenn das Schiff ablegt. Es ist völlig dunkel geworden. Auch am Kai sind alle
Lichter gelöscht.
Niemand von der Familie hat sie zum Hafen begleitet. Gewiss, sie
wollte es so, aber wenn jetzt doch noch jemand käme und winkte. Vater
vielleicht … Lillian weint leise vor sich hin und ist in diesem Augenblick
tiefunglücklich. Das Elternhaus, die Geschwister, die Liebe und die Fürsorge
ihrer Mutter, alles Vertraute verschwindet in der Dunkelheit.
»Jetzt gehst du also deinen eigenen Weg«, waren die letzten Worte
des Vaters gewesen. Das klang so ernst, so traurig. Sie wischt sich mit ihren
Handschuhen die Tränen aus dem Gesicht. Und Helmut wird mit jeder Seemeile
weiter weg von ihr sein. Als der Dampfer hinter der Trondenes-Halbinsel Kurs
auf Svolvær nimmt, atmet sie tief durch und versucht sich zu beruhigen. Sie
geht nach unten zur Rezeption und fragt nach der Kabine, die sie reserviert
hat.
»Leider können Sie erst ab Svolvær eine Kabine bekommen«, antwortet
der Stewart. »Das verstehe ich nicht«, sagt sie. Und sie zeigt ihm den
Durchschlag der Reservierung. »Ihre Bestellung muss verschwunden sein,
jedenfalls sind Sie nicht auf meiner Liste.« Nun, dann muss es eben ohne Kabine
gehen.
Das Schiff ist völlig überfüllt, die Passagiere sitzen oder liegen
überall. Auf Treppen, in Salons oder auf Gängen. Koffer, Kisten und Säcke
versperren die Durchgänge, man hört Kinder weinen. Viele Flüchtlinge aus
Finnmark sind mit an Bord, man evakuiert sie weiter in den südlichen Teil des
Landes.
Eine alte Frau sitzt auf einer Kiste, eine Pappschachtel auf ihrem
Schoß, in der eine Katze mit sieben neugeborenen Jungen liegt. »Schau, wie
wunderbar sie sind.« Liebevoll streichelt sie die Katze und ihren Nachwuchs.
Ein deutscher Soldat verteilt an die umstehenden Kinder Bonbons. Ein
kleines Mädchen, das ganz hinten in der Schlange steht, hat nichts bekommen.
Ein anderer Soldat gibt ihm eine Tafel Schokolade.
In einer Ecke des Salons findet Lillian einen Sitzplatz. Sie hat immer
noch Angst, von dem Kommandanten entdeckt und angesprochen zu werden. »Hallo,
Lillian«, hört sie plötzlich eine weibliche Stimme hinter sich. Lillian dreht
sich um. »Ach, Frau Knudsen, Sie wollen auch nach Süden?« »Ja, ich will zu
meinen Eltern nach Helgeland, mein Vater ist erkrankt. Ich gehe jetzt aber in
meine Kabine, da ist mehr Ruhe.«
Lillian schaut sie bekümmert an. »Ich habe auch eine Kabine
reservieren lassen, aber irgendwas ist schiefgelaufen, und ich kann sie erst ab
Svolvær bekommen.«
»Das dauert ja noch Stunden, bis wir da sind«, sagt Frau Knudsen,
»so lange sollst du hier nicht bleiben. Ich habe eine Kabine für mich alleine,
bis Svolvær können wir sie uns teilen.« Lillian folgt ihr dankbar.
Der Wind hat zugenommen, das Schiff stampft durch die Wellen. Sie
müssen sich am Geländer festhalten. In der Kabine öffnet Frau Knudsen eine
Tasche, holt eine Thermosflasche heraus und eine Blechdose mit Butterbroten.
»Echter Bohnenkaffee! Und der Rest meines kleinen versteckten Reichtums.«
Das Schiff hebt und senkt sich mächtig, denn es geht bei schwerem
Wetter über das offene Meer. Hohe Wellen schlagen gegen das Kabinenfenster, und
es knackt und knirscht im Holzwerk der Lofoten .
Auf Frau Knudsens Frage hin erzählt Lillian, dass sie mit dem Schiff
bis Trondheim fahren will und von dort weiter mit dem Zug nach Oslo. »Nach ein
paar Tagen in Oslo werde ich dann weiter mit dem Zug nach Westnorwegen zu
meiner Cousine fahren. Und dort bleiben, bis der Krieg zu Ende ist.« Dann
stockt das Gespräch. Lillian ahnt, welche Frage Frau Knudsen gleich stellen
wird.
»Lillian, hast du noch deinen deutschen Freund? Ich habe dich einmal
mit ihm gesehen. Ist das vorbei? Fährst du deshalb weg?« Frau Knudsen schaut
sie prüfend an. »Nein, Frau Knudsen, mit meinem Freund ist es nicht zu Ende.
Wir werden immer aufeinander warten. Aber er will nicht, dass ich in
Nordnorwegen bleibe. Wenn die
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