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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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mich
    sehr verlockte. Wäre ich ein Anhänger jener erwähnten Frei-
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    heit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen,
    der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte. Jedenfalls
    aber beobachtete ich sie schon lange vorher, ehe ich an solche
    Dinge dachte, ja die angehäuften Beobachtungen drängten
    mich erst in die bestimmte Richtung.
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    Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken konnte
    ich schon in den ersten Tagen. Wir spuckten einander dann
    gegenseitig ins Gesicht; der Unterschied war nur, daß ich mein
    Gesicht nachher reinleckte, sie ihres nicht. Die Pfeife rauchte
    ich bald wie ein Alter; drückte ich dann auch noch den Dau-
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    men in den Pfeifenkopf, jauchzte das ganze Zwischendeck; nur
    den Unterschied zwischen der leeren und der gestopften Pfeife
    verstand ich lange nicht.
    Die meiste Mühe machte mir die Schnapsflasche. Der Ge-
    ruch peinigte mich; ich zwang mich mit allen Kräften; aber es
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    vergingen Wochen, ehe ich mich überwand. Diese inneren
    Kämpfe nahmen die Leute merkwürdigerweise ernster als
    irgend etwas sonst an mir. Ich unterscheide die Leute auch in
    meiner Erinnerung nicht, aber da war einer, der kam immer
    wieder, allein oder mit Kameraden, bei Tag, bei Nacht, zu den
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    verschiedensten Stunden; stellte sich mit der Flasche vor mich
    hin und gab mir Unterricht. Er begriff mich nicht, er wollte das Rätsel meines Seins lösen. Er entkorkte langsam die Flasche
    und blickte mich dann an, um zu prüfen, ob ich verstanden
    habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit über-
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    stürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen Menschenschüler
    findet kein Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund; nach-
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    Franz Kafka: Erzählungen

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    dem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund; ich mit
    meinen Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickte, zufrieden
    mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von
    allmählicher Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge
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    und Breite nach, wo es sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht einen Schluck; ich, ungeduldig und ver-
    zweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige mich in meinem Käfig,
    was wieder ihm große Genugtuung macht; und nun weit die
    Flasche von sich streckend und im Schwung sie wieder hinauf-
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    führend, trinkt er sie, übertrieben lehrhaft zurückgebeugt, mit
    einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzu großem Verlangen,
    kann nicht mehr folgen und hänge schwach am Gitter, wäh-
    rend er den theoretischen Unterricht damit beendet, daß er
    sich den Bauch streicht und grinst.
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    Nun erst beginnt die praktische Übung. Bin ich nicht schon
    allzu erschöpft durch das Theoretische? Wohl, allzu erschöpft.
    Das gehört zu meinem Schicksal. Trotzdem greife ich, so gut
    ich kann, nach der hingereichten Flasche; entkorke sie zit-
    ternd; mit dem Gelingen stellen sich allmählich neue Kräfte
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    ein; ich hebe die Flasche, vom Original schon kaum zu unter-
    scheiden; setze sie an und und werfe sie mit Abscheu, mit
    Abscheu, trotzdem sie leer ist und nur noch der Geruch sie
    füllt, werfe sie mit Abscheu auf den Boden. Zur Trauer meines
    Lehrers, zur größeren Trauer meiner selbst; weder ihn noch
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    mich versöhne ich dadurch, daß ich auch nach dem Wegwerfen
    der Flasche nicht vergesse, ausgezeichnet meinen Bauch zu
    streichen und dabei zu grinsen.
    Allzuoft nur verlief so der Unterricht. Und zur Ehre meines
    Lehrers: er war mir nicht böse; wohl hielt er mir manchmal die
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    brennende Pfeife ans Fell, bis es irgendwo, wo ich nur schwer
    hinreichte, zu glimmen anfing, aber dann löschte er es selbst
    wieder mit seiner riesigen guten Hand; er war mir nicht böse,
    er sah ein, daß wir auf der gleichen Seite gegen die Affennatur
    kämpften und daß ich den schwereren Teil hatte.
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    Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich
    eines Abends vor großem Zuschauerkreis vielleicht war ein
    Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwi-
    schen den Leuten als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet,
    eine vor meinem Käfig versehentlich stehengelassene
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    Schnapsflasche ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der
    Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte
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    und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker vom Fach,
    mit rund gewälzten

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