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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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können;
    fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünkt-
    chen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und
    wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich
    zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.
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    Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. "Dies frühzeitige Aufstehen", dachte er, "macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie
    Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags
    ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu über-
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    schreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte
    ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hi-
    nausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich
    wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte,
    ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten
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    und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus
    gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine son-
    derbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe
    herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der
    Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun,
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    die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich
    einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn
    abzuzahlen - es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern - ,
    mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt
    gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein
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    Zug fährt um fünf."
    Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte.
    "Himmlischer Vater!", dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber,
    es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht ge-
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    läutet haben? Man sah vom Bett aus, daß er auf vier Uhr rich-
    tig eingestellt war; gewiß hatte er auch geläutet. Ja, aber war
    es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu ver-
    schlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahr-
    scheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun? Der
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    nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er
    sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch
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    Franz Kafka: Erzählungen

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    nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht be-
    sonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug
    einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden,
    denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und
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    die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet. Es war
    eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun,
    wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich
    und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen
    Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiß würde der
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    Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern
    wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände
    durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden,
    für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue
    Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz
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    unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer
    nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit,
    ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.
    Als er dies alles in größter Eile überlegte, ohne sich entschlie-20
    ßen zu können, das Bett zu verlassen - gerade schlug der
    Wecker dreiviertel sieben - klopfte es vorsichtig an die Tür am
    Kopfende seines Bettes.
    "Gregor", rief es - es war die Mutter - , "es ist dreiviertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren?" Die sanfte Stimme!
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    Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die
    wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von
    unten her, ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piep-
    sen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick
    in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu
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    zerstören, daß man nicht wußte, ob man recht gehört hatte.
    Gregor hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen,
    beschränkte sich aber bei diesen Umständen darauf, zu sagen:
    "Ja, ja, danke Mutter, ich stehe schon auf." Infolge der Holztür war die Veränderung in Gregors Stimme draußen wohl nicht zu
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    merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Erklärung
    und schlürfte davon.

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