Erzählungen
anbrechender Morgenröthe eilte ich zum Oberführer. Der Himmel war wolkenlos, und ein fast unmerklicher Wind wehte aus Nordost. Die Kette des Mont-Blanc, deren Hauptgipfel sich in den Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten, schien die Touristen freundlich zu einem Besuch einzuladen. Wer konnte eine so liebenswürdige Aufforderung, ohne sich schwerer Unhöflichkeit schuldig zu machen, ausschlagen! Nachdem Herr Balmat sein Barometer zu Rathe gezogen hatte, erklärte er die Besteigung für ausführbar und versprach mir die von dem Reglement vorgeschriebenen beiden Führer und einen Träger. Ich überließ ihm die Wahl der Leute; ein unerwarteter Zwischenfall aber brachte eine gewisse Störung in die Vorbereitungen zu meiner Abreise.
Als ich aus dem Bureau des Oberführers kam, traf ich auf Eduard Ravanel, der an mich herantrat und fragte:
»Will der Herr den Mont-Blanc besteigen?
– Gewiß, erwiderte ich; finden Sie den Augenblick nicht gut gewählt?«
Er sann einige Minuten nach und begann dann etwas gezwungen:
»Da ich Sie gestern zum Brevent geleitet habe, sind Sie nun einmal mein Reisender, Herr Verne; ich möchte Sie nicht verlassen. Und da Sie dort oben hinauf wollen, werde ich mit Ihnen gehen, wenn Sie meine Dienste gütigst annehmen wollen. Im Fall Sie meine Begleitung beanspruchen, kann der Herr Oberführer nichts dagegen einzuwenden haben, denn bei allen gefährlichen Expeditionen dürfen die Reisenden sich ihre Führer wählen. Sollten Sie mein Anerbieten nicht zurück weisen, so habe ich noch die Bitte, ob mein Bruder Ambroise Ravanel und mein Vetter Gaspari Simon mitgehen dürfen. Es sind beides junge, kräftige Menschen, die solche Reise zwar ebenso wenig lieben wie ich, aber die vor der Anstrengung nicht zurückscheuen; ich kann für sie bürgen wie für mich selbst.«
Der Bursche flößte mir Vertrauen ein; ich nahm also seine Dienste an und benachrichtigte ohne weiteren Zeitverlust den Oberführer von der Wahl, die ich getroffen hatte.
Aber während dieser Unterhandlungen hatte schon Herr Balmat Schritte in Betreff der Führer gethan, indem er seiner Liste folgte. Nur ein Einziger nahm indessen an, es war dies Eduard Simon; auf die Antwort eines andern, Namens Jean Carrier, wartete man noch, und da der Mann bereits neunundzwanzig Mal den Mont-Blanc bestiegen hatte, war man über seine Entscheidung nicht in Zweifel. Diese Sachlage setzte mich sehr in Verlegenheit, denn die von mir gewählten Führer waren sämmtlich aus Argentières, einer sechs Kilometer von Chamouni entfernten Ortschaft, und die hiesigen Führer klagten Ravanel an, daß er mich zu Gunsten seiner Familie beeinflußt habe, was dem Reglement zuwider lief.
Um der unangenehmen Erörterung rasch ein Ende zu machen, nahm ich Eduard Simon, der seine Vorbereitungen schon getroffen hatte als dritten Führer an.
Pfad über den Gletscher der Bossons. (S. 260.)
Wenn ich allein empor stieg, war er mir von keinem Nutzen; entschloß sich aber mein Freund mich zu begleiten, so wurde er uns unentbehrlich.
Nachdem ich diese Angelegenheit geregelt hatte, setzte ich Donatien Levesque von meinen Absichten in Kenntniß. Er schlief noch den Schlaf des Gerechten, der am vorhergehenden Tage fünfzehn Kilometer in die Berge gemacht hat, und es hatte einige Schwierigkeiten, ihn wach zu rütteln; als ich ihm aber zuerst seine Decke, dann seine Kopfkissen und schließlich die Matratze fort gezogen hatte, schlug er endlich die Augen auf, und es gelang mir, ihm begreiflich zu machen, daß ich mich zu meiner großen Expedition rüstete.
»Ich werde Sie bis zu den Grands-Mulets begleiten, sagte er gähnend, und dort auf Ihre Rückkehr warten.
– Bravo! rief ich; ich habe zufällig einen Führer mehr, als ich brauche, und werde ihn sofort an Ihre werthe Person verweisen.«
Nun kauften wir die für Gletscherfahrten unentbehrlichen Gegenstände ein, als da sind eisenbeschlagene Stöcke, Gamaschen aus grobem Tuch, grüne, hermetisch auf die Augen passende Brillen, Pelzhandschuhe, grüne Schleier und Bergleitern; nichts wurde vergessen. Wir waren im Besitz vorzüglicher Schuhe mit dreifachen Sohlen, die unsere Führer scharf beschlagen ließen, und diese letztere Vorsichtsmaßregel erwies sich als unumgänglich nothwendig, denn oftmals auf unserer Reise kamen Augenblicke, wo ein Ausgleiten nicht nur das Leben eines Einzelnen, sondern die Existenz der ganzen Karawane gefährdete.
Bis die Vorbereitungen von uns und unseren Führern beendet
Weitere Kostenlose Bücher