Erzaehlungen
ihren Namen ... wenn er am Ende fürchtet, sie sei verletzt ... wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie muß weiter weggeschleudert worden sein. Und ... und ... ja, was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland mit Leuten ... er wird erzählen ... die Frau war ja da, wie ich fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz wird wissen ... er kennt sie ja so gut ... er wird wissen, daß sie davongelaufen ist, und ein gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um sich zu rächen. Denn er ist ja verloren ... und es wird ihn so tief erschüttern, daß sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, daß er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte ... feig und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Ärzte, Sie hätten sie gewiß nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Diskretion ersucht hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, o ja – nur hätte sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht gewesen ist, sag' ich Ihnen, wer sie ist ... es ist ... Ah!
»Was hast du?« sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht.
»Was ... wie? ... Was ist?«
»Ja, was ist dir denn?«
»Nichts.« Sie drückte den Jungen fester an sich.
Der Professor sieht sie lang an. »Weißt du, daß du begonnen hast, einzuschlummern und –«
»Und?«
»Dann hast du plötzlich aufgeschrien.«
» ...So?«
»Wie man im Traum schreit, wenn man Alpdrücken hat. Hast du geträumt?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts.«
Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiß, daß es ihr eigenes ist, und doch schaudert ihr davor ... Und sie merkt, daß es starr wird, sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiß es: dieses Lächeln wird, so lange sie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien. Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie sieht, wie sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken sich in die ihren. Sie weiß, übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit ihnen anfangen, was sie will; aber sie muß ihn benützen, sonst ist es vorbei, und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten, die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter und zärtlich an.
Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirn fühlt, denkt sie: freilich ... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich nie rächen, nie ... er ist tot ... er ist ganz gewiß tot ... und die Toten schweigen.
»Warum sagst du das?« hörte sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. »Was hab' ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie plötzlich alles ganz laut erzählt ... als habe sie die ganze Geschichte dieses Abends hier bei Tisch mitgeteilt ... und noch einmal fragt sie, während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab' ich denn gesagt?«
»Die Toten schweigen«, wiederholt ihr Mann sehr langsam.
»Ja ...« sagt sie, »ja ...«
Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann, und lange seh'n die beiden einander an. »Bring' den Buben zu Bett,« sagte er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen ...«
»Ja«, sagte sie.
Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird.
Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut ...
Arthur Schnitzler
Um eine Stunde
Er hielt ihre Hand in der seinen und betrachtete ihr blasses Gesicht, aus dem jede Spur des Lebens geschwunden schien. Da öffnete sie noch einmal die Augen. Er wußte, wenn sich diesmal die Lider senkten, so war es für immer. Ihre Brust hob sich schwer, und er wußte: dies ist der letzte Atemzug. Da ergriff ihn eine ungeheure Angst um sie, und er betete, ohne daß seine Lippen sich bewegten: »Laß sie mir, Unerbittlicher, laß sie mir! Laß sie mir noch einen Tag, noch eine Stunde, aber nimm sie mir nicht jetzt, nicht gleich!«
Da sah er mit einem Male den Engel des Todes im Fenster
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