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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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schauen, bevor ich dorthin muß, wo ich nicht mehr sehen und hören werde. Und ich weiß eine Geschichte von einem, der hat Vater und Mutter umgebracht, und noch unter dem Galgen, mit dem Strick um den Hals, haben sie ihn begnadigt. Und wenn sie mich in den tiefsten Kerker werfen auf Lebenszeit, bei Wasser und trockenem Brot, zu Ratten und Mäusen, und ich soll nie wieder die Sonne sehen, so würd' es mir recht sein, bin dann noch immer besser dran als ein toter Graf! Hebe dich weg, verruchtes Gespenst, hebe dich weg!«
    Noch klang dem Jüngling das Fluchen des Verurteilten im Ohr, da fand er sich schon in einem schönen, stillen Gemach, das matt erhellt war von einer roten Ampel, die von der Decke herabhing und ihren Schein über ein Himmelbett verbreitete, in dem ein junges Paar sich innig umschlungen hielt. Aber nur das junge Weib sah die Erscheinung und lächelte.
    »Bist du der Engel der Liebe?« fragte sie.
    »Nein, ich bin der Engel des Todes und komme, dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Denn ich will dich von hinnen nehmen, während du in den Armen des Geliebten ruhst.«
    »Mit ihm?«
    »Nein – allein.«
    »Das will ich nicht«, flüsterte das junge Weib.
    »Und willst du's auch nicht, wenn ich dir sage, daß du doch in einer Stunde sterben müßtest?«
    »In einer Stunde?«
    »Ja, so ist es dir bestimmt. Aber dann wirst du allein sein und wirst deine Arme vergeblich nach dem Geliebten ausstrecken. Glaube nicht, daß du träumst; was ich dir sage, ist wahr, so jung du bist.«
    Da schmiegte sie sich an den Geliebten und sagte: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!«
    Der Geliebte lächelte und sagte: »Was hast du denn, mein armes Kind?«
    Da sprach der Engel des Todes: »Du wirst mir diese Stunde gern schenken, wenn ich dir sage, daß ich sie für eine deiner Schwestern auf Erden brauche, die ebenso innig geliebt wird als du und die dahingehen soll, ohne es zu wissen!«
    »Nein, ich gebe dir diese Stunde nicht«, erwiderte das junge Weib; »denn ich habe mich wohl gesehnt, in den Armen des Geliebten zu sterben, solang du mir fern warst, aber da ich dich vor mir sehe, will ich auch diese Stunde noch leben, und wär' es auch allein – und ohne Liebe!«
    Da trug der Engel den Jüngling in die Lüfte und sprach zu ihm: »Nun bring' ich dich wieder heim.«
    Den Jüngling aber faßte eine namenlose Verzweiflung, er klammerte sich mit beiden Armen an den Engel und rief: »Verlaß mich nicht! So kann ich nicht zurück! Die Fülle des Lebens ist ungeheuer, und irgendwo in der Welt muß diese einzige Stunde zu finden sein, die ich haben will und um die ich dich nochmals anflehe.«
    Da erwiderte der Engel: »Es ist so, wie du sagst. Aber nun gibt es nur noch einen einzigen auf der Welt, der sie dir geben kann, und wenn der es nicht tut, so wird dich das elender machen als alle Enttäuschungen, die du bisher erfahren. Denn der eine bist du selbst, und die eine Stunde mußt du mit deinem ganzen Leben bezahlen.«
    »So nimm es hin!« rief der Jüngling freudig aus.
    »Höre mich an«, sprach der Engel. »Denn ich sage dir noch mehr. Das Leben, das dir bevorsteht, wird Not, Krankheit und Einsamkeit sein. Bist du bereit, es hinzugeben, so gehst du nach Ablauf einer Stunde mit der, die du liebst, dahin.«
    »Ich danke dir, du gütiger Engel!« rief der Jüngling aus. »Nun ist mein Flehen erhört.«
    In demselben Augenblick saß er wieder an dem Bette der geliebten Frau, hielt ihre Hand in der seinen und wollte ihr sagen, wie unendlich er sie liebte. Da sah er, wie sich ihre Lider schlössen, ihre Brust sich senkte. Er wartete eines neuen Blickes, eines neuen Hauches – doch es war vergeblich. Sie atmete nicht mehr, sie schaute nicht mehr – es war zu Ende. Da stürzte er in Verzweiflung an ihrem Bette zusammen und schrie auf: »Engel des Todes, warum hast du mich betrogen?«
    Und der Engel, der nun zu Häupten des Bettes stand, sprach: »Armes Menschenkind! Glaubst du denn, daß es dir vergönnt ist, durch alle deine Liebe und durch allen deinen Schmerz hindurch in die Tiefen deiner Seele zu schauen, wo deine wahren Wünsche wohnen? Noch einmal wirst du mich sehen, da werde ich dich fragen, ob ich dich heute betrogen habe oder du dich selbst.«

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