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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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Wort des Abschieds sagen können. Du weißt noch nicht, was Hoffnungslosigkeit ist, in dieser Stunde wirst du es wissen und wirst fühlen, daß sie die grauenhafteste von allen Qualen ist, die über dich verhängt worden.«
    Der Kranke hatte sich im Bette aufgerichtet, schlug mit den Händen um sich, als wollte er die Erscheinung vertreiben, und schrie: »Geh, geh! Du kommst noch immer zur rechten Zeit! Wärst du vor einem Jahre gekommen, so hätte ich dir gedankt; jetzt hab' ich mich an meine Qualen längst gewöhnt und weiß doch, daß ich lebe. Ja, ich lebe, ich lebe! Auch hab' ich eben nach dem berühmtesten Arzt der Stadt geschickt, er wird gleich da sein, und wenn mich auch die hundert anderen nicht retten konnten, vielleicht wird der es tun. So geh doch, geh!«
    Die Wärterin, die neben dem Kranken eingeschlafen war, fiel ihm in die Arme, zugleich stürzten seine Kinder aus dem Nebenzimmer herbei, und der Todesengel flog mit dem Jüngling von dannen.
    Nun standen sie inmitten eines weiten Tales, darin die Morgennebel lagen, vor einer ärmlichen Hütte. Auf einer Bank davor saß ein blindes, uraltes Weib ganz allein. – »Wer ist denn da?« flüsterte sie mit ihren welken Lippen.
    »Ich bin es, der Engel des Todes.«
    Da zitterte die Greisin und fragte: »Muß ich denn schon sterben?«
    Der Engel erwiderte: »Wie oft hast du geklagt, daß ich ganz an dich vergessen habe, in Armut und Elend bist du hundert Jahre alt geworden, deine Kinder hat man vor dir ins Grab gelegt, deine Enkel sind in alle Welt verstreut und kümmern sich nicht um dich, du bist einsam und blind. Nun bin ich endlich da – begrüßest du mich nicht mit Freude?«
    Und die Alte flüsterte wieder: »Muß ich wirklich schon fort? Muß ich wirklich schon fort?«
    Der Engel antwortete: »Wohl wäre dir noch eine Stunde des Daseins bestimmt, aber was kann sie dir sein? Ich bitte dich, mir sie für Jemanden zu schenken, dem sie hunderttausendmal mehr wert ist als dir. Denn zu dir wird auch in dieser Stunde kein menschliches Wesen kommen, niemand wird deine Hand in der seinen halten, niemand dir die Augen zudrücken, und das Aufgehen der Sonne kannst du nicht sehen. Worauf willst du noch warten?«
    Da kniete das Weib nieder und flehte: »Laß mir diese Stunde, wenn sie doch einmal mir gehört. So dunkel und einsam sie sein wird, dort, wohin sie mich morgen tragen werden, ist es noch einsamer und dunkler. Verlasse mich, Engel des Todes, komme nicht früher, als es sein muß.«
    Und wieder nahm der Engel des Todes den Jüngling unter seine Flügel und flog mit ihm davon. Plötzlich befanden sie sich in einer kleinen Zelle. An einem hölzernen Tischchen, auf dem zwei Kerzen brannten, saß mit Fesseln an den Händen und Füßen ein bleicher Mann und starrte durch das vergitterte Fenster ins Leere. Er fuhr zusammen, als plötzlich der Engel zwischen ihm und dem Fenster stand. Er fuhr sich über die Stirn, suchte aufzustehen, und seine Ketten rasselten.
    »Was willst du denn jetzt schon?« schrie er heiser.
    »Ich will dich befreien«, sagte der Engel des Todes.
    »Schon jetzt, schon jetzt? Ich habe das Glöcklein noch nicht läuten gehört; du kommst zu früh!«
    »Du hast recht«, sagte der Engel, »denn es ist wahr, daß du in einer Stunde erst gerichtet werden sollst, weil du deine Mutter umgebracht hast. Aber wenn du mir diese letzte grauenvolle Stunde schenkst für einen anderen, der Besseres damit anfangen kann als du, so bin ich bereit, dich schon jetzt mit mir zu nehmen. Gleich wirst du hören, wie man im Hof den Galgen aufrichtet, bald wird das Gefängnistor knarren, um den Leuten Einlaß zu gewähren, die deiner Hinrichtung bewohnen wollen. Endlich wird sich die Tür deiner Zelle zum letztenmal öffnen, und draußen werden der Scharfrichter und seine Gesellen stehen, die dich die enge Treppe hinunterschleppen werden, bis zu dem Gerüst, auf dem du dein Leben in schimpflicher und martervoller Weise enden sollst.«
    »Fort! Fort!« schrie der Verurteilte. »Wenn ich auch nur auf das kleinste Stück von meinem Leben verzichten wollte, hätt' ich mir ja längst den Kopf hier an die Wand rennen können, und alles wär' vorbei gewesen. Aber ich will nicht! Ich will nicht! Nein! Ich will das Hämmern und Schlagen im Hofe hören und das Knarren des Tores, und ich will mit diesen Füßen über die schmale Treppe hinuntergehen zu dem Gerüst, will die Menschen sehen, die gekommen sind, will hören, wie sie flüstern, und den Himmel will ich noch einmal

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