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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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doch, warum ich da oben vor den anderen – ich habe gefürchtet, daß du das Ganze auf einmal – – Und sieh, Geronimo, es wäre doch an der Zeit, hab' ich mir gedacht, daß du dir einen neuen Rock kaufst und ein Hemd und Schuhe auch, glaube ich; darum habe ich ...«
    Der Blinde schüttelte heftig den Kopf. »Wozu?« Und er strich mit der einen Hand über seinen Rock. »Gut genug, warm genug; jetzt kommen wir nach dem Süden.«
    Carlo begriff nicht, daß Geronimo sich gar nicht zu freuen schien, daß er sich nicht entschuldigte. Und er redete weiter: »Geronimo, war es denn nicht recht von mir? Warum freust du dich denn nicht? Nun haben wir es doch, nicht wahr? Nun haben wir es ganz. Wenn ich dir's oben gesagt hätte, wer weiß ... Oh, es ist gut, daß ich dir's nicht gesagt habe – gewiß!«
    Da schrie Geronimo: »Hör' auf zu lügen, Carlo, ich habe genug davon!«
    Carlo blieb stehen und ließ den Arm des Bruders los. »Ich lüge nicht.«
    »Ich weiß doch, daß du lügst! ... Immer lügst du! ... Schon hundertmal hast du gelogen! ... Auch das hast du für dich behalten wollen, aber Angst hast du bekommen, das ist es!«
    Carlo senkte den Kopf und antwortete nichts. Er faßte wieder den Arm des Blinden und ging mit ihm weiter. Es tat ihm weh, daß Geronimo so sprach; aber er war eigentlich erstaunt, daß er nicht trauriger war.
    Die Nebel zerteilten sich. Nach langem Schweigen sprach Geronimo: »Es wird warm.« Er sagte es gleichgültig, selbstverständlich, wie er es schon hundertmal gesagt, und Carlo fühlte in diesem Augenblick: für Geronimo hatte sich nichts geändert. Für Geronimo war er immer ein Dieb gewesen.
    »Hast du schon Hunger?« fragte er.
    Geronimo nickte, zugleich nahm er ein Stück Käse und Brot aus der Rocktasche und aß davon. Und sie gingen weiter.
    Die Post von Bormio begegnete ihnen; der Kutscher rief sie an: »Schon hinunter?« Dann kamen noch andere Wagen, die alle aufwärts fuhren.
    »Luft aus dem Tal,« sagte Geronimo, und im gleichen Augenblick, nach einer raschen Wendung, lag das Veltlin zu ihren Füßen.
    Wahrhaftig – nichts hat sich geändert, dachte Carlo ... Nun hab' ich gar für ihn gestohlen – und auch das ist umsonst gewesen.
    Die Nebel unter ihnen wurden immer dünner, der Glanz der Sonne riß Löcher hinein. Und Carlo dachte: ›Vielleicht war es doch nicht klug, so rasch das Wirtshaus zu verlassen ... Die Börse liegt unter dem Bett, das ist jedenfalls verdächtig ...‹ Aber wie gleichgültig war das alles! Was konnte ihm noch Schlimmes geschehen? Sein Bruder, dem er das Licht der Augen zerstört, glaubte sich von ihm bestohlen und glaubte es schon jahrelang und wird es immer glauben – was konnte ihm noch Schlimmes geschehen?
    Da unter ihnen lag das große weiße Hotel wie in Morgenglanz gebadet, und tiefer unten, wo das Tal sich zu weiten beginnt, lang hingestreckt, das Dorf. Schweigend gingen die beiden weiter, und immer lag Carlos Hand auf dem Arm des Blinden. Sie gingen an dem Park des Hotels vorüber, und Carlo sah auf der Terrasse Gäste in lichten Sommergewändern sitzen und frühstücken. »Wo willst du rasten?« fragte Carlo.
    »Nun, im ›Adler‹, wie immer.«
    Als sie bei dem kleinen Wirtshause am Ende des Dorfes angelangt waren, kehrten sie ein. Sie setzten sich in die Schenke und ließen sich Wein geben.
    »Was macht ihr so früh bei uns?« fragte der Wirt.
    Carlo erschrak ein wenig bei dieser Frage. »Ist's denn so früh? Der zehnte oder elfte September – nicht?«
    »Im vergangenen Jahr war es gewiß viel später, als ihr herunterkamt.«
    »Es ist so kalt oben,« sagte Carlo. »Heut Nacht haben wir gefroren. Ja richtig, ich soll dir bestellen, du möchtest nicht vergessen, das Öl hinaufzuschicken.«
    Die Luft in der Schenke war dumpf und schwül. Eine sonderbare Unruhe befiel Carlo; er wollte gern wieder im Freien sein, auf der großen Straße, die nach Tirano, nach Edole, nach dem See von Iseo, überallhin, in die Ferne führt! Plötzlich stand er auf.
    »Gehen wir schon?« fragte Geronimo.
    »Wir wollen doch heut Mittag in Boladore sein, im ›Hirschen‹ halten die Wagen Mittagsrast; es ist ein guter Ort.«
    Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand rauchend vor seinem Laden. »Guten Morgen,« rief er. »Nun, wie sieht's da oben aus? Heut Nacht hat es wohl geschneit?«
    »Ja, ja«, sagte Carlo und beschleunigte seine Schritte.
    Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich die Straße zwischen Wiesen und Weinbergen, dem rauschenden Fluß

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