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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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entlang. Der Himmel war blau und still. ›Warum hab' ich's getan?‹ dachte Carlo. Er blickte den Blinden von der Seite an. ›Sieht sein Gesicht denn anders aus als sonst? Immer hat er es geglaubt – immer bin ich allein gewesen – und immer hat er mich gehaßt.‹ Und ihm war, als schritte er unter einer schweren Last weiter, die er doch niemals von den Schultern werfen dürfte, und als könnte er die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner Seite schritt, während die Sonne leuchtend auf allen Wegen lag.
    Und sie gingen weiter, gingen, gingen stundenlang. Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder kamen sie durch ein Dorf. Vor dem Wirtshause standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen und gingen hin und her; aber die beiden Bettler blieben nicht. Wieder hinaus auf die offene Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag mußte nahe sein. Es war ein Tag wie tausend andere.
    »Der Turm von Boladore,« sagte Geronimo. Carlo blickte auf. Er wunderte sich, wie genau Geronimo die Entfernungen berechnen konnte: wirklich war der Turm von Boladore am Horizont erschienen. Noch von ziemlich weither kam ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei er am Wege gesessen und plötzlich aufgestanden. Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß es ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der Landstraße begegnete. Trotzdem schrak Carlo leicht zusammen. Aber als der Mann näher kam, erkannte er ihn und war beruhigt. Es war Pietro Tenelli; erst im Mai waren die beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi in Morignone mit ihm zusammen gesessen, und er hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erzählt, wie er von einem Strolch einmal beinahe erdolcht worden war.
    »Es ist einer stehen geblieben,« sagte Geronimo.
    »Tenelli, der Gendarm,« sagte Carlo.
    Nun waren sie an ihn herangekommen.
    »Guten Morgen, Herr Tenelli,« sagte Carlo und blieb vor ihm stehen.
    »Es ist nun einmal so,« sagte der Gendarm, »ich muß euch vorläufig beide auf den Posten nach Boladore fuhren.«
    »Eh!« rief der Blinde.
    Carlo wurde blaß. ›Wie ist das nur möglich?‹ dachte er. ›Aber es kann sich nicht darauf beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht wissen.‹
    »Es scheint ja euer Weg zu sein,« sagte der Gendarm lachend, »es macht euch wohl nichts, wenn ihr mitgeht.«
    »Warum redest du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
    »O ja, ich rede ... Ich bitte, Herr Gendarm, wie ist es denn möglich ... was sollen wir denn ... oder vielmehr, was soll ich ... wahrhaftig, ich weiß nicht ...«
    »Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch unschuldig. Was weiß ich. Jedenfalls haben wir die telegraphische Anzeige ans Kommando bekommen, daß wir euch aufhalten sollen, weil ihr verdächtig seid, dringend verdächtig, da oben den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun, es ist auch möglich, daß ihr unschuldig seid. Also vorwärts!«
    »Warum sprichst du nichts, Carlo?« fragte Geronimo.
    »Ich rede – o ja, ich rede ...«
    »Nun geht endlich! Was hat es für einen Sinn, auf der Straße stehen zu bleiben! Die Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an Ort und Stelle. Vorwärts!«
    Carlo berührte den Arm Geronimos wie immer, und so gingen sie langsam weiter, der Gendarm hinter ihnen.
    »Carlo, warum redest du nicht?« fragte Geronimo wieder.
    »Aber was willst du, Geronimo, was soll ich sagen? Es wird sich alles herausstellen; ich weiß selber nicht ...«
    Und es ging ihm durch den Kopf: ›Soll ich's ihm erklären, eh wir vor Gericht stehen? ... Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört uns zu ... Nun, was tut's. Vor Gericht werd' ich ja doch die Wahrheit sagen. »Herr Richter,« werd' ich sagen, »es ist doch kein Diebstahl wie ein anderer. Es war nämlich so: ...« Und nun mühte er sich, die Worte zu finden, um vor Gericht die Sache klar und verständlich darzustellen. »Da fuhr gestern ein Herr über den Paß ... es mag ein Irrsinniger gewesen sein – oder am End' hat er sich nur geirrt ... und dieser Mann ...«‹
    Aber was für ein Unsinn! Wer wird es glauben? ... Man wird ihn gar nicht so lange reden lassen. – Niemand kann diese dumme Geschichte glauben ... nicht einmal Geronimo glaubt sie ... – Und er sah ihn von der Seite an. Der Kopf des Blinden bewegte sich nach alter Gewohnheit während des Gehens wie im Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungslos, und die leeren Augen stierten in die Luft. – Und Carlo wußte plötzlich, was für Gedanken

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