Erzaehlungen
einzureißen begannen. Sie versuchte sich das Aussehen Emils vorzustellen. Gesichter, die eine leichte Ähnlichkeit mit dem seinen hatten, tauchten auf, manchmal glaubte sie schon das rechte zu halten, doch verschwamm es gleich. Sie begann zu zweifeln, ob sie recht getan, schon heute zu reisen. Warum hatte sie nicht wenigstens bis Montag gewartet? So aber mußte sie sich's eingestehen: sie fuhr nach Wien, zu einem Rendezvous mit einem jungen Mann, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesprochen und der vielleicht eine ganz andere erwartete, als die ihm morgen entgegenkam. Ja, das war es, was sie unruhig machte; jetzt wußte sie's. Dieser Brief, der ihrer zarten Haut schon ein bißchen weh tat, war an die zwanzigjährige Berta gerichtet, denn Emil konnte ja nicht wissen, wie sie jetzt aussah. Und wenn sie auch selbst sich sagen mußte, daß ihr Antlitz die Linien ihrer Mädchenjahre und daß ihre Gestalt, nur in größerer Fülle, die Umrisse ihrer Jugend bewahrt hatte, würde er nicht trotz alledem sehen, was ein Jahrzehnt an ihr verändert, wohl auch zerstört hatte, ohne daß sie selbst es gemerkt?
Klosterneuburg. Viele helle Stimmen, das Geräusch von rasch laufenden Schritten drang an ihr Ohr. Sie sah hinaus. Eine Menge von Schuljungen drängte heran, stieg mit Lachen und Geschrei in die Waggons. Jetzt mußte Berta daran denken, wie ihre Brüder als Kinder von Landpartien nach Hause gekommen waren, und plötzlich stand ihr das blaugemalte Zimmer vor Augen, in dem die Buben damals geschlafen hatten. Es lief wie ein Schauer über sie, als ihr bewußt ward, wie alles Vergangene in die Winde gestreut war, wie die Menschen, denen sie das Dasein verdankt, gestorben, die, mit denen sie jahrelang unter einem Dach gewohnt, verschollen, wie Beziehungen gelöst waren, die für die Dauer gegründet schienen. Wie unverläßlich, wie sterblich war alles! Und er ... er hatte ihr geschrieben, als wenn in diesen zehn Jahren sich nichts verändert hätte, als wenn dazwischen nicht Begräbnisse, Geburten, Schmerzen, Krankheiten, Sorgen und – für ihn wenigstens – soviel Glück und Ruhm gelegen wäre. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie eine Verwirrung über soviel Unbegreifliches kam es über sie. Und selbst das Sausen des Zuges, der sie da mittrug zu Erlebnissen, die sie nicht kannte, schien ihr ein Gesang von merkwürdiger Traurigkeit. Sie dachte an die Zeit zurück, die noch gar nicht ferne war, die kaum Tage hinter ihr lag, in der sie ruhig und zufrieden gewesen und ihr Dasein ohne Wünsche, ohne Bedauern und ohne Staunen hingenommen. Wie war das nur alles über sie gekommen? Sie faßte es nicht.
Immer schneller schien der Zug seinem Ziele zuzueilen. Schon stieg der Dunst der großen Stadt wie aus der Tiefe empor. Das Herz begann ihr zu klopfen. Es war ihr, als werde sie erwartet, von irgend etwas Unbestimmtem, das sie nicht hätte nennen können, von irgend etwas Hundertarmigem, das bereit war, sie zu umfassen; jedes Haus, an dem sie vorüberfuhr, wußte, daß sie kam, die Abendsonne auf den Dächern glänzte ihr entgegen, und als der Zug jetzt in die Halle einfuhr, fühlte sie sich mit einemmal geborgen. Jetzt erst empfand sie, daß sie in Wien, in ihrem Wien war, in der Stadt ihrer Jugend, ihrer Träume, in der Heimat! Hatte sie denn bisher gar nicht daran gedacht? Sie kam nicht vom Hause, – nein, jetzt war sie zu Hause angelangt. Der Lärm auf dem Bahnhof erfüllte sie mit Wohlbehagen, das Gewühl der Wagen und Menschen freute sie, alles Traurige war von ihr abgefallen. – Hier stand sie, Berta Garlan, jung und hübsch, an einem warmen Maiabend in Wien, am Franz-Josefs-Bahnhof, frei, niemandem Rechenschaft schuldig, und morgen früh wird sie den Einzigen wiedersehen, den sie je geliebt, – den Geliebten, der sie gerufen hat.
In einem kleinen Hotel nahe dem Bahnhof stieg sie ab. Sie hatte sich vorgenommen, eines von den weniger vornehmen zu wählen, einerseits aus Sparsamkeit, dann aus einer gewissen Scheu vor eleganten Kellnern und Portiers. Sie bekam ein Zimmer im dritten Stock angewiesen, mit einem Fenster auf die Gasse, das Stubenmädchen schloß es, als die Fremde eintrat, brachte frisches Wasser, der Hausknecht stellte ihren Koffer neben den Ofen, und der Kellner legte ihr den Meldzettel vor, den Berta sogleich und sicher mit dem Stolz des guten Gewissens ausfüllte.
Ein Gefühl von äußerer Freiheit, das sie lang nicht gekannt, umfing sie; nichts von den täglichen kleinen Sorgen des Haushaltes,
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