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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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hinunter – is ja net so schwer!« So flüsterte es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da, lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das zusammengefaltete weiße Spitzenruch gebettet; Karl blieb regungslos stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ...
    Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet, aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt.

Arthur Schnitzler
Geschichte eines Genies

»So wär' ich denn auf die Welt gekommen«, sagte der Schmetterling, schwebte über einem braunen Zweig hin und her und betrachtete die Gegend. Milde Märzsonne war über dem Park, drüben auf den Hängen lag noch einiger Schnee, und feucht glänzend zog die Landstraße zu Tal. Zwischen zwei Gitterstäben flog er ins Freie. »Dieses also ist das Universum«, dachte der Schmetterling, fand es im ganzen bemerkenswert und machte sich auf die Reise. Es fror ihn ein wenig, aber da er so rasch als möglich weiterflog und die Sonne immer höher stieg, wurde ihm allmählich wärmer.
    Anfangs begegnete er keinem lebenden Wesen. Später kamen ihm zwei kleine Mädchen entgegen, die sehr erstaunt waren, als sie ihn gewahrten, und in die Hände klatschten.
    »Ei«, dachte der Schmetterling, »ich werde mit Beifall begrüßt, offenbar seh' ich nicht übel aus.« Dann begegnete er Reitern, Maurergesellen, Rauchfangkehrern, einer Schafherde, Schuljungen, Bummlern, Hunden, Kindermädchen, Offizieren, jungen Damen; und über ihm in der Luft kreisten Vögel aller Art.
    »Daß es nicht viel meinesgleichen gibt«, dachte der Schmetterling, »das hab' ich vermutet, aber daß ich der Einzige meiner Art bin, das übertrifft immerhin meine Erwartungen.«
    Er segelte weiter, wurde etwas müde, bekam Appetit und ließ sich zum Erdboden nieder; aber nirgends fand er Nahrung.
    »Wie wahr ist es doch«, dachte er, »daß es das Los des Genies ist, Kälte und Entbehrungen zu leiden. Aber nur Geduld, ich werde mich durchringen.«
    Indes stieg die Sonne immer höher, dem Schmetterling wurde wärmer, und mit neuen Kräften flog er weiter. Nun erhob sich die Stadt vor ihm, er schwebte durchs Tor, über Plätze und Straßen, wo sich viele Menschen ergingen; und alle, die ihn bemerkten, waren erstaunt, lächelten einander vergnügt zu und sagten: »Nun will es doch Frühling werden.« Der Schmetterling setzte sich auf den Hut eines jungen Mädchens, wo eine Rose aus Samt ihn anlockte, aber die seidenen Staubfäden schmeckten ihm durchaus nicht. »Daran sollen es sich andre genügen lassen«, dachte er, »ich für meinen Teil will weiter hungern, bis ich einen Bissen finde, der meines Gaumens würdig ist.«
    Er erhob sich aus dem Kelch, und durch ein offenes Fenster schwebte er

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