Erzählungen
denn ich habe gesehen, daß ihr Schatten, als sie in die Dunkelheit kam, von ihr abfiel, von dem schwarzen Wasser aufgesogen wurde und seine Finsternis noch finsterer machte.‹
Und wieder erschien das Boot mit der Fee, und in ihrer Haltung lag wieder mehr Sorge und Trauer und weniger lebendige Fröhlichkeit. Sie glitt von neuem aus dem Lichte in die Dunkelheit, die sich von Sekunde zu Sekunde vertiefte, und wieder fiel ihr Schatten von ihr ab in das ebenholzfarbene Wasser und wurde von seinem Schwarz verschlungen. Und immer wieder umkreiste sie die Insel – während die Sonne sich schon zum Schlummer bettete – und jedesmal, wenn die Fee wieder im Lichte stand, erschien ihre Gestalt schwächer, zerbrechlicher, undeutlicher … und jedesmal, wenn sie in die Dunkelheit steuerte, löste sich ein dunklerer Schatten von ihr los, der von noch tieferer Finsternis verschlungen wurde. Und endlich, als die Sonne ganz versunken war, verschwand auch die Fee – die jetzt wohl nur noch ein Schatten ihrer selbst war – mit dem Boote in den Weiten des abenddunklen Flusses.
Ob sie jemals wieder aus ihm hervortauchte, ich kann’s nicht sagen, denn tiefste, dichteste Finsternis fiel über alle Dinge, und ich sah ihre zauberhafte Gestalt nicht wieder.
DAS GESPRÄCH ZWISCHEN MONOS UND UNA
The Colloquy of Monos and Una ()
Mellonta tauta (Sophocles)
Una: Wiedergeboren?
Monos: Ja, schönste und geliebteste Una, wiedergeboren! Dies ist das Wort, über dessen mystischen Sinn ich, der ich alle Erklärungsversuche der Priester zurückwies, gegrübelt habe, bis endlich der Tod selbst das Rätsel für mich löste.
Una: Der Tod!
Monos: Wie seltsam du mir, süße Una, das Wort nachsprichst! Dein Schritt ist schwankend, eine freudevolle Unruhe blickt aus deinen Augen; die neue Macht des ewigen Lebens verwirrt und bedrückt dich noch. Ja, ich sprach vom Tode! Und wie sonderbar das Wort hier klingt, das Wort, das ehemals jedes Herz mit Angst und Schrecken erfüllte und grauen Meltau auf jede bunte Freudenblüte streute!
Una: Ach, der Tod, das Gespenst, das sich zu allen unseren Festen drängte! Wie oft, Monos, verloren wir uns in Betrachtungen über sein Wesen! Wie oft gebot er menschlichem Glücke Einhalt durch sein: ›Bis hierher und nicht weiter!‹ Wie schmeichelten wir uns, mein einziger Monos, daß die heiße, gegenseitige Liebe, die in unsern Herzen brannte und deren erstes Keimen uns so glücklich machte, stets wachsen werde und mit ihr unser Glück! Ach, wie sie wuchs, wuchs auch in unseren Herzen das Entsetzen vor jener unheilvollen Stunde, die unabwendbar nahte, um uns auf immer zu trennen! So wandelte sich mit der Zeit unser Lieben zum Schmerz. Einander hassen zu können, wäre Erlösung gewesen.
Monos: Sprich hier nicht von jenen Qualen, geliebteste Una – mein jetzt! mein für immer!
Una: Aber erhöht nicht die Erinnerung an vergangenen Kummer unsere jetzige Seligkeit? Ich möchte noch viel von jenen Dingen sprechen, die gewesen sind. Vor allem verlangt mich, die Geschehnisse auf deiner Reise durch das dunkle Tal des Schattens zu erfahren.
Monos: Wann hätte die herrliche Una vergebens etwas von ihrem Monos erbeten? Ich werde dir alles ausführlich erzählen – aber wo soll der schauerliche Bericht beginnen?
Una: Wo?
Monos: Ja!
Una: Monos, ich verstehe dich! Der Tod hat uns beiden gezeigt, wie töricht die Neigung der Menschen ist, das Unenträtselbare enträtseln zu wollen. Ich sage also nicht: »Beginne mit dem Augenblicke, da dein Leben endete« – sondern beginne mit jenem traurigen Moment, als das Fieber dich verließ, als du ohne Atem und Bewegung in Erstarrung sankst und ich mit liebendem, leidenschaftlichem Finger deine bleichen Lider zudrückte.
Monos: Zuerst ein Wort, meine Una, über die allgemeine Lage der Menschheit zu jener Zeit … Du erinnerst dich, daß ein oder zwei Weise unter unseren Vorvätern – wirkliche Weise, obgleich sie in den Augen der Welt nicht dafür galten – es gewagt hatten, die Anwendbarkeit des Wortes Fortschritt auf den Gang der Zivilisation anzuzweifeln. In jedem der fünf oder sechs Jahrhunderte vor unserem Tode gab es einen Augenblick, in dem sich eine kraftvolle Intelligenz erhob und kühn für jene Prinzipien stritt, deren Wahrheit unserem ungehinderten Verstande jetzt ganz selbstverständlich erscheint – für Prinzipien, die unser Geschlecht gelehrt haben sollten, sich lieber der Führung der Naturgesetze zu unterwerfen, als sie beherrschen zu
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