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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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die Sonne sich schon dem Untergange neigte, erhoben sich die grünen Mauern des Waldes. Der kleine Bach, der eine scharfe Biegung machte und sich ganz plötzlich den Blicken entzog, schien keinen Ausweg zu haben und im Osten von dem tiefen Grün der Bäume aufgesogen zu werden; während an der gegenüberliegenden Seite – so schien es mir wenigstens, als ich den Blick nach oben richtete – lautlos ein reicher, purpurgoldener Wasserfall aus den westlichen Lichtquellen des Himmels in das Tal herniederstürzte.
    Etwa im Mittelpunkte der Landschaft, die mein träumender Blick umschloß, ruhte im Schoße des Baches das kleine, runde, üppig begrünte Eiland, Dess’ Licht und Schatten so getönt, daß in der Luft es schwebend schien …
    Und so spiegelhell war das Wasser, daß man nicht erkennen konnte, an welchem Punkte des smaragdenen Abhanges der Insel sein kristallenes Reich begann.
    Meine Lage ermöglichte es mir, mit einem Blicke das östliche und westliche Ende des Eilandes zu überschauen; und ich bemerkte sonderbar ausgeprägte Gegensätze.
    Der Westen war ein strahlender Harem von Gartenschönheiten.
    Er glühte und errötete unter den schrägen Strahlen der Sonne, und seine Blumen lächelten zauberhaft. Das Gras war kurz, leicht bewegt und asphodelenübersäet. Die Bäume geschmeidig, glänzend, schlank und voll Anmut, ihre Gestalt, ihr Laubwerk morgenländisch, die Rinde weich, leuchtend und farbig. Ein tiefes, belebendes Freudegefühl schien alles zu durchdringen, und obgleich der Himmel kein Lüftchen entsandte, war das Bild durch das weiche Flattern zahlloser Schmetterlinge, die man für beschwingte Blumen hätte halten können, still belebt.
    Die östliche Seite der Insel tauchte in tiefsten Schatten. Eine düstere, doch friedevolle Melancholie lag darüber. Die Bäume waren voll dunkler Farbe und trauervoller Gestalt und Haltung – sie verflochten sich zu ernsten, feierlichen, geisterhaften Erscheinungen, die an tödlichen Kummer und frühzeitigen Tod zu denken gemahnten. Der Rasen hatte die tiefe Farbe der Cypressen; die Spitzen seiner Halme hingen verschmachtend herab. Hie und da erhoben sich kleine Hügel, niedrig, schmal und nicht lang, die aussahen wie Gräber, aber doch keine waren, obgleich Raute und Rosmarin sie überwucherten. Der Schatten der Bäume fiel schwer auf das Wasser; er schien in ihm zu versinken und den flachen Grund mit seiner Dunkelheit zu erfüllen. Ich bildete mir ein, daß jeder Schatten, der mit der Sonne tiefer und tiefer sank, sich traurig von seinem Stamme losriß und von dem Flusse verschlungen wurde, während im Augenblicke andere Schatten aus dem Baume stiegen und die Stelle ihres begrabenen Vorgängers einnahmen.
    Kaum hatte sich dieser Gedanke in meiner Vorstellung festgesetzt, da verlor ich mich auch schon in andere Träumereien: ›Wenn es jemals eine verzauberte Insel gab.‹ – sagte ich mir – ›so ist es diese. Sie wird das Reich der wenigen holden Feen sein, die noch von ihrem Geschlechte übrig geblieben. Ruhen die anderen in jenen Gräbern?
    Geben auch sie ihren süßen Geist auf wie die Kinder der Menschen?
    Oder ist ihr Tod ein trauriges Hinwelken? Geben sie ihr Leben nach und nach in Gottes Hand zurück, wie diese Bäume Schatten nach Schatten entsenden? Ist das Leben der Feen für den unersättlichen Geist des Todes dasselbe, was jene hinblühenden Bäume für das Wasser sind, das ihre Schatten trinkt und dadurch dunkler wird?‹
    Während ich so mit halbgeschlossenen Augen träumte und die Sonne schneller und schneller ihrem Lager zueilte, indes ein Wirbelwind um die Insel schoß und leuchtende weiße Flocken den Planeten entriß und auf das Wasser verstreute – während ich so träumte, schien es mir, als ob die Gestalt einer jener Feen, an die ich eben gedacht, langsam aus dem Licht am westlichen Ende der Insel in die Dunkelheit entschwebe. Sie stand aufrecht in einem seltsam zerbrechlichen Boote, das sie mit dem Scheinbild eines Ruders bewegte. Während ihre Haltung unter der Wirkung der letzten zögernden Sonnenstrahlen Freude auszudrücken schien, sank Bekümmernis auf sie nieder, da sie in den Schatten gelangte. Langsam glitt sie dahin, umkreiste die Insel und stand dann wieder im verglühenden Lichte. ›Der Kreislauf, den die Fee jetzt beschrieben hat,‹ fuhr ich in meinen Träumen fort, ›wird der Ring eines kurzen Jahres ihres Lebens sein. Sie hat ihren Winter und ihren Sommer durchfahren. Sie ist ihrem Tode um ein Jahr näher gekommen,

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