Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
wollen. In langen Zwischenräumen erschienen überlegene Geister, die auf jeden Fortschritt der praktischen Wissenschaft wie auf einen Rückschritt der wahren Nützlichkeit herabsahen. Bloß der dichterische Geist – von dem wir jetzt wissen, daß er der erhabenste gewesen, da die Wahrheiten, die für uns von höchster Wichtigkeit waren, uns  nur durch eben jene Analogie verständlich wurden, die für die Phantasie Beweiskraft hat, den Verstand allein jedoch nicht überzeugt – bloß dieser dichterische Geist, sage ich, geht vor der tastenden Philosophie her. Er entnahm aus der mystischen Parabel vom Baume der Erkenntnis und seiner verbotenen, todbringenden Frucht die deutliche Warnung, daß während der Kindheit der Seele die Erkenntnis keine Nahrung für den Menschen ist. Und diese feinen Menschen, die Dichter – im Leben und im Tode verachtet von den Utilitariern, von rauhen Pedanten, die sich einen Titel anmaßten, der nur den Verachteten gebührt hätte – diese feinen Menschen, die Dichter, vergruben sich mit weisem Schmerz in das Angedenken jener Tage, in denen unsere Bedürfnisse so gering, wie unsere Genüsse ursprünglich waren, in denen man das Wort Heiterkeit nicht kannte, so feierlich und tiefgetönt war damals das Glück – damals, in jenen heiligen, erhabenen, segensreichen Tagen, in denen blaue Flüsse, von keinem Damme beengt, durch jungfräuliches Land dahinströmten und sich in ferne, duftende, unerforschte Urwaldeinsamkeiten verloren.
    Doch diese edlen Ausnahmen von der allgemeinen Verblendung dienten nur dazu, sie durch die Opposition, die sie hervorriefen, noch zu befestigen. Ach! wir wandelten gerade den schlimmsten aller schlimmen Tage auf Erden. ›Die große Bewegung‹ – das war ja wohl das banale Schlagwort – ging vor sich: ein krankhafter, moralischer und physischer Aufruhr. Die Kunst – das heißt alle Künste, alles äußere ›Können‹ - wurden hoch erhoben, und, einmal auf den Thron gesetzt, legten sie den Verstand, der sie zur Herrschaft gebracht, in Ketten. Der Mensch, der nicht umhin konnte, die Majestät der Natur anzuerkennen, brach in kindisches Frohlocken ob seiner endlich errungenen und noch immer wachsenden Herrschaft über ihre Elemente aus. Aber während er sich in seinen Gedanken als den Gott aufspielte, kam eine kindische Verstandesschwäche über ihn. Wie es aus dem Ursprunge der Krankheit nur zu erklärlich war, wurde er bald von dem Verlangen ergriffen, alles in Systeme und Abstraktionen zu bringen. Er umgab sich mit Verallgemeinerungen. Unter anderen wunderlichen Ideen gewann die einer allgemeinen Gleichheit immer mehr Boden; und im Angesichte Gottes wurden – trotz der lauten, warnenden Stimme der Gesetze der Gradation, die so sichtbarlich alle Dinge im Himmel und auf der Erde durchdringen – unsinnige Anstrengungen gemacht, eine allherrschende Demokratie einzuführen.
    Doch dieses Übel entsprang notwendigerweise aus dem Grundübel, der Erkenntnis . Der Mensch konnte nicht zu gleicher Zeit wissend werden und unterwürfig bleiben. Mittlerweile erhoben sich riesige rauchende Städte. Die grünen Blätter schrumpften vor dem heißen Atem der Essen zusammen. Das schöne Angesicht der Natur wurde wie durch die Verwüstungen einer widerwärtigen Krankheit entstellt.
    Jetzt, süße Una, scheint es mir, als habe selbst das schlummernde Gefühl des Gezwungenen und Unnatürlichen jenes Zustandes uns damals Einhalt gebieten müssen. Doch glaube ich, daß wir törichterweise an unserer eigenen Zerstörung arbeiteten, indem wir unseren Geschmack verdarben, oder vielmehr, indem wir es blindlings vernachlässigten, ihn in unseren Schulen zu bilden. Denn in dieser Krise konnte allein der Geschmack – jene Fähigkeit, die eine mittlere Stellung zwischen dem reinen Verstande und dem Moralsinne einnimmt und die man noch niemals ungestraft aus den Augen gelassen – der Geschmack allein konnte uns wieder zur Schönheit, zur Natur und zum Leben zurückführen. Doch ach! wo waren sie – der reine beschauliche Geist und die majestätische Intuition Platos? Wo war sie, die Musik, die er so gerechterweise als ein allgenügendes Erziehungsmittel für die Seele annahm? Ach! wo waren sie? Sie waren vergessen oder verachtet, als man ihrer am dringendsten bedurfte.
    Pascal, ein Philosoph, den wir beide liebten, hat einmal – wie wahr! – gesagt: ›que tout notre raisonnement se réduit à céder au sentiment‹; und es ist nicht unmöglich, daß das Gefühl zum Natürlichen,

Weitere Kostenlose Bücher