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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Tante oder sonst eine Verwandte in der Rue des Drômes besuchen zu wollen. Von dieser Stunde an ist sie nachweislich von niemandem mehr gesehen worden. Man hat weder eine Spur noch die geringste Nachricht von ihr … Bis jetzt hat noch niemand ausgesagt, daß er sie an diesem Tage, nachdem sie das Haus der Mutter verließ, überhaupt gesehen habe. Obgleich wir nun keinen Beweis haben, daß Marie Rogêt sich nach neun Uhr an dem betreffenden Sonntag noch unter den Lebenden befand, haben wir doch Beweise, daß sie bis zu dieser Stunde noch lebte. Am Mittwoch um zwölf Uhr mittags wurde ein weiblicher Leichnam unweit des Ufers der Barrière du Roule im Wasser schwimmend gefunden. Es waren also, selbst wenn wir annehmen, daß Marie in den ersten drei Stunden nach dem Verlassen der mütterlichen Wohnung ins Wasser geworfen wurde, nur drei Tage, auf die Stunde drei Tage, verflossen.
    Doch wäre es töricht, anzunehmen, daß der Mord, wenn überhaupt ein Mord vorliegt, so früh hätte verübt werden können, daß es den Mördern möglich gewesen wäre, den Leichnam noch vor Mitternacht in den Fluß zu werfen. Menschen, die sich solch abscheulicher Verbrechen schuldig machen, handeln meistens unter dem Schutz der Dunkelheit … War also der im Wasser gefundene Leichnam wirklich der Marie Rogêts, so konnte er nur zwei und einen halben Tag im Wasser oder drei Tage außerhalb desselben gelegen haben. Nun lehrt uns aber alle Erfahrung, daß Ertrunkene oder Körper, die nach erfolgtem gewaltsamen Tode sofort ins Wasser geworfen wurden, sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Verwesung so weit vorgeschritten ist, daß sie wieder an die Oberfläche kommen. Selbst wenn eine Kanone über einen Leichnam hinweg abgefeuert wird und derselbe in die Höhe kommt, ehe er fünf bis sechs Tage im Wasser gelegen hat, sinkt er wieder, sobald er sich selbst überlassen wird. Nun müssen wir uns fragen, was denn im vorliegenden Falle für ein Grund vorhanden gewesen sein könnte, eine Abweichung von dem gewöhnlichen Lauf der Natur zu rechtfertigen? Wäre der Leichnam in seinem verstümmelten Zustande bis Dienstag nacht am Ufer versteckt gehalten worden, so hätte man dort sicherlich eine Spur von den Mördern finden müssen. Außerdem ist es zweifelhaft, daß der Körper so bald wieder an die Oberfläche gekommen wäre, selbst wenn er erst zwei Tage nach seinem Tode in den Fluß geworfen wurde. Und endlich ist es höchst unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, die einen so schauderhaften Mord verübten, den Leichnam nicht durch ein Gewicht zum Sinken gebracht hätten, da doch dieser wichtigen Vorsichtsmaßregel nichts im Wege stand.‹
    Nun suchte der Redakteur des Blattes weiter zu beweisen, daß der Körper nicht bloß drei Tage, sondern wenigstens fünfmal drei Tage im Wasser gelegen haben müsse, da er schon so weit in Verwesung übergegangen gewesen sei, daß Beauvais ihn nur mit Schwierigkeit erkannt habe. Die letzte Behauptung wurde jedoch als durchaus unrichtig erwiesen. Ich fahre mit den Worten der Etoile fort:
    ›Welches sind also die Tatsachen, auf die Herr Beauvais seine Behauptung stützt, der Leichnam sei unzweifelhaft der der Marie Rogêt gewesen? Er hat ihren Kleiderärmel aufgeschnitten und will Zeichen gefunden haben, die Beweise genug waren. Das Publikum nahm allgemein an, daß er mit diesen Zeichen irgendwelche Narben oder Male gemeint habe. Er rieb den Arm und fand Haare auf ihm – also etwas, was so wenig von Bedeutung war und die Identität so wenig bewies wie etwa die Tatsache, daß man einen Arm in dem Ärmel fand. Herr Beauvais ging in jener Nacht nicht nach Hause, sondern ließ Frau Rogêt noch Mittwoch abend sagen, daß die Untersuchung betreffs ihrer Tochter immer noch fortdauere. Selbst, wenn wir zugeben, daß Frau Rogêt durch ihr hohes Alter und ihren Schmerz verhindert wurde, sich an den Ort der Untersuchung zu begeben, so würde doch wohl irgendein anderer Angehöriger es der Mühe wert gehalten haben, der Untersuchung beizuwohnen, wenn man den gefundenen Körper wirklich für den Leichnam von Marie gehalten hätte. Es kam aber niemand. Herr Saint Eustache, Mariens Bräutigam und zukünftiger Gatte, der im Hause ihrer Mutter lebte, behauptete, daß er von der Auffindung des Leichnams seiner Braut erst am folgenden Morgen Nachricht erhalten habe, und zwar durch Herrn Beauvais, der auf sein Zimmer gekommen sei und ihm davon berichtet habe. Es ist aber im höchsten Grade erstaunlich, daß eine Nachricht von solcher

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