Erzählungen
Auffindung des Leichnams verstrichen – drei Wochen, die nicht den geringsten Anhalt zur Ermittlung des Täters geliefert hatten –, ehe auch nur das kleinste Gerücht des Ereignisses zu meinen und Dupins Ohren gelangte. Da wir beide mit Untersuchungen beschäftigt waren, die unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, waren wir seit fast einem Monat nicht mehr ausgegangen, hatten keinen Besucher empfangen und nur die politischen Leitartikel der Zeitungen und auch diese nur sehr flüchtig gelesen.
Die erste Nachricht von dem Mord brachte uns der Präfekt G. persönlich. Er besuchte uns früh am Nachmittage des . Juli .. und blieb bis spät in die Nacht hinein bei uns. Er schien höchst niedergeschlagen darüber, daß alle seine Bemühungen, den Mörder ausfindig zu machen, resultatlos blieben. Sein Ruf, ja, seine Ehre stehe auf dem Spiel, behauptete er mit dem echten Ton des Parisers. Aller Augen seien auf ihn gerichtet, und er würde jedes Opfer gerne bringen, um das Rätsel endlich zu lösen. Er schloß seine etwas konfuse Rede mit einem Kompliment, das er Dupin über seinen sogenannten Takt zu sagen geruhte, und machte ihm einen direkten und gewiß äußerst einträglichen Vorschlag, dessen Natur ich nicht näher bezeichnen darf und will und auch nicht brauche, da er für den eigentlichen Gegenstand meiner Erzählung von keiner Bedeutung ist.
Das Kompliment lehnte mein Freund so bestimmt wie nur möglich ab, den Vorschlag jedoch nahm er an, obgleich die mit ihm verbundenen Vorteile nur bedingte waren. Als sie sich über diesen Punkt geeinigt hatten, erging sich der Präfekt in weitläufigen Auseinandersetzungen seiner eigenen Ansichten sowie in langen Kommentaren über die Zeugenaussagen, die uns noch vollständig unbekannt waren. Er redete viel und ohne Zweifel sehr gelehrt, bis ich endlich die gelegentliche Bemerkung wagte, daß die Nacht schon vorrücke und schläfrig mache. Dupin saß ruhig in seinem gewohnten Lehnstuhl und schien die Verkörperung achtungsvollster Aufmerksamkeit zu sein. Er trug während des Gespräches eine Brille, und ein gelegentlicher Blick unter ihre grünen Gläser genügte, um mich zu überzeugen, daß er während der sieben oder acht bleiflüssigen Stunden, die dem Abschied des Präfekten vorhergingen, zwar still, doch nichtsdestoweniger fest schlief.
Am folgenden Morgen verschaffte ich mir auf der Polizeipräfektur eine vollständige Zusammenstellung der bisherigen Zeugenaussagen und auf den verschiedenen Zeitungsexpeditionen ein Exemplar jeder Nummer, in der bis jetzt irgendeine wichtige Nachricht über die traurige Angelegenheit gestanden hatte. Sah man von allem ab, was sich als unwahr herausgestellt hatte, so war das seitherige Ergebnis der Ermittlungen auf Folgendes zu beschränken:
Marie Rogêt verließ die Wohnung ihrer Mutter in der Rue Pavée Sainte Andrée am Sonntag, dem . Juni .. um neun Uhr morgens. Beim Weggehen teilte sie einem Herrn Jacques St. Eustache, und zwar diesem allein, die Absicht mit, den Tag bei ihrer Tante zuzubringen, die in der Rue des Drômes wohnte. Diese Rue des Drômes ist eine kurze, schmale, aber sehr besuchte Straße in der Nähe des Flusses und in gerader Linie etwa zwei Meilen von der Pension der Frau Rogêt entfernt. Saint Eustache war Mariens anerkannter Bewerber und wohnte und speiste in der erwähnten Pension.
Er sollte seine Verlobte in der Dämmerung abholen und wieder nach Hause zurückbegleiten Im Laufe des Nachmittags jedoch stellte sich ein heftiger Regen ein, und da er annahm, sie würde die Nacht über, wie sie unter ähnlichen Umständen schon öfters getan, bei der Tante bleiben, hielt er es nicht für notwendig, sein Versprechen zu halten.
Als der Abend jedoch vorschritt, hörte man Frau Rogêt, eine alte, gebrechliche, siebzigjährige Dame die Befürchtung aussprechen, sie werde Marie wohl nie wiedersehen. Diese Bemerkung wurde jedoch im Augenblick nicht beachtet.
Am Montag stellte es sich heraus, daß das Mädchen nicht in der Rue des Drômes gewesen war; und als man auch im Laufe des Tages nichts von ihm erfuhr, nahm man noch spät abends in verschiedenen Teilen der Stadt und der Umgegend eine Nachforschung vor. Doch erst am vierten Tage nach seinem Verschwinden wußte man, oder vielmehr: wußten einige, woran sie waren. An diesem Tage – es war also Mittwoch, der . Juni – benachrichtigte man einen Herrn Beauvais, der in Gesellschaft eines Freundes bei der Barrière du Roule am Ufer
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