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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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durchaus in Erfüllung, und die Reize des munteren Mädels machten sein Geschäft bald sehr bekannt. Marie hatte ihre Stellung vielleicht ein Jahr inne, als ihre Bewunderer plötzlich dadurch in große Unruhe versetzt wurden, daß sie – verschwand. Monsieur LeBlanc vermochte keine Aufklärung zu geben, und Frau Rogêt geriet vor Angst und Schrecken fast außer sich. Die Zeitungen nahmen die Sache auf, und schon wollte die Polizei zu ernstlichen Nachforschungen schreiten, als nach Verlauf einer Woche Marie – gesund, nur ein klein wenig bleich und traurig – eines schönen Morgens wieder hinter dem Zahltisch der Parfümerie erschien. Natürlich wurden sofort alle weiteren, nicht privaten Nachforschungen aufgegeben. Der Parfümeur behauptete nach wie vor, nicht das geringste in der Sache zu wissen. Marie und Frau Rogêt antworteten auf alle Fragen, daß sie die letzte Woche in dem Hause einer Verwandten auf dem Lande zugebracht habe. So geriet die ganze Geschichte in Vergessenheit, zumal das junge Mädchen bald darauf, um der unverschämten Neugierde des Publikums zu entgehen, den Laden des Parfümeurs endgültig verließ und wieder unter dem Schutz der Mutter in der Rue Pavée Sainte Andrée wohnte.
    Ungefähr fünf Monate nach der Rückkehr in das Haus der Mutter wurden ihre Angehörigen plötzlich durch ein neues Verschwinden in Aufregung versetzt. Es vergingen drei Tage, ohne daß man das geringste von ihr hörte. Am vierten fand man den Leichnam auf der Seine schwimmend, in der Nähe des Ufers, das dem Quartier der Rue Pavée Sainte Andrée gerade gegenüberliegt, nicht weit entfernt von der wenig besuchten Gegend an der Barrière du Roule.
    Die Gräßlichkeit dieses Mordes – es stellte sich nur zu bald heraus, daß hier ein Mord vorlag –, die Jugend und Schönheit sowie vor allem die bekannte Persönlichkeit des Opfers brachten die sensiblen Pariser in gewaltige Aufregung. Ich erinnere mich keines ähnlichen Falles, der so tiefes und allgemeines Aufsehen erregt hätte. Mehrere Wochen vergaß man darüber selbst die wichtigsten politischen Tagesfragen, sprach von nichts anderem mehr als von diesem Kriminalfall.
    Der Polizeipräfekt machte ganz ungewöhnliche Anstrengungen, um Licht in die Sache zu bringen: die ganze Polizei, bis zum letzten Mann, wurde zu den Nachforschungen aufgeboten.
    Als man den Leichnam entdeckte, glaubte man nicht, daß der Mörder den alsbald angestellten Nachforschungen entgehen könne.
    Erst nach Verlauf einer Woche hielt man es für nötig, eine Belohnung auszusetzen, und beschränkte sie noch auf tausend Francs.
    Mittlerweile wurden die Nachforschungen mit Energie, wenn auch nicht immer mit Verständnis fortgesetzt, zahlreiche Personen wurden verhört, ohne daß das geringste Ergebnis zutage getreten wäre, während die anscheinende Unerklärlichkeit des Geheimnisses die Erregung der Bevölkerung stetig steigerte. Am Ende des zehnten Tages hielt man es für angemessen, die ursprünglich ausgesetzte Belohnung zu verdoppeln; und endlich, als die zweite Woche ohne das geringste Resultat verflossen und die Bevölkerung von Paris, die stets ein Vorurteil gegen die Polizei besessen hat, zu ziemlich bedrohlichen Zusammenrottungen geschritten war, entschloß sich der Präfekt, demjenigen, ›der den Mörder zur Anzeige brächte‹, oder wenn die Tat von mehreren ausgeführt worden sei, dem, ›der einen der Mörder zur Anzeige brächte‹, eine Belohnung von zwanzigtausend Francs zu versprechen. In dem Aufruf, in welchem der Präfekt diese Belohnung verhieß, war zugleich jedem Mitschuldigen, der gegen seine Genossen aussagte, vollständige Straflosigkeit zugesichert. Dieser amtlichen Bekanntmachung war überall eine Nachschrift beigefügt, in der ein Ausschuß von Bürgern noch weitere zehntausend Francs auf die Entdeckung des Verbrechers aussetzte. Die Belohnung belief sich also insgesamt auf nicht weniger als dreißigtausend Francs – eine ganz außerordentliche Summe, wenn man die bescheidene Lebensstellung des Mädchens und die Tatsache in Betracht zieht, daß derartige Greueltaten in großen Städten häufig vorkommen.
    Es zweifelte jetzt niemand mehr, daß sich das Dunkel, das diesen Mord einhüllte, bald aufhellen werde. Aber obgleich man ein oder zwei Verhaftungen vornahm, ließ sich doch nichts ermitteln, was die Schuld der Betreffenden bewiesen hätte, und man mußte sie alsbald wieder in Freiheit setzen. Vielen wird es sonderbar erscheinen, daß drei Wochen seit der

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