Erzählungen
nach Marie gesucht hatte, daß eben einige Fischer einen Leichnam ans Land gezogen hätten, den sie auf dem Flusse schwimmend gefunden hatten. Beauvais erklärte nach einigem Zögern den Leichnam identisch mit der verschwundenen Parfümverkäuferin, sein Freund erkannte ihn sofort.
Das ganze Gesicht war von schwarzem Blute überronnen, das zum Teil aus dem Munde hervorgequollen zu sein schien. Man bemerkte keinen Schaum, wie bei Personen, die einfach ertrunken sind. In dem Zellengewebe ließ sich keine Entfärbung wahrnehmen. An der Kehle zeigten sich Quetschungen und Fingereindrücke. Die Arme waren über der Brust zusammengelegt und steif. Die rechte Hand war zusammengeballt, die linke halb offen. Am linken Handgelenk befanden sich zwei kreisrunde, wunde Stellen, die anscheinend von Stricken oder einem einzigen, mehrfach herumgewundenen Strick verursacht worden waren. Auch ein Teil des rechten Handgelenkes war zerschunden, ebenso der ganze Rücken, besonders aber die Schulterblätter. Die Fischer hatten den Leichnam mittels eines Strickes ans Ufer gebracht, doch rührte keine der Hautabschürfungen davon her.
Das Fleisch des Halses war dick aufgeschwollen, Schnitte und die Spuren eines Schlages bemerkte man jedoch nicht. Ein Stück Spitze war fest um den Hals gebunden, ganz im Fleisch begraben und mit einem Knoten gerade unter dem linken Ohr zusammengeschlungen.
Dies allein würde genügt haben, den Tod herbeizuführen.
Das Zeugnis der Ärzte betonte den tugendhaften Charakter der Verstorbenen und erklärte, daß sie roher Gewalt unterlegen sei. Der Leichnam war, als man ihn fand, in einem Zustand, daß ihn alle näheren Bekannten ohne Schwierigkeit erkennen mußten.
Die Kleider waren vielfach zerrissen und auch sonst in großer Unordnung. Aus dem obersten Gewand war ein Streifen von ungefähr einem Fuß Breite, von dem Saume nach oben hin, heraus-, jedoch nicht abgerissen worden. Dieser Streifen war dreimal um die Taille gewunden und auf dem Rücken durch eine Art Schlinge befestigt worden. Der unmittelbar unter dem Kleid liegende Rock bestand aus feinem Musselin, und aus diesem hatte man einen ungefähr achtzehn Zoll breiten Streifen vollständig, und zwar sehr gleichmäßig und sorgfältig herausgerissen. Man fand ihn lose um den Hals der Toten gewunden und in einem festen Knoten zusammengebunden.
Über dem Spitzen- und dem Musselinstreifen waren noch die Hutbänder, an denen ihr Hut hing, gebunden, und zwar nicht mittels eines Damenknotens, sondern eines sogenannten verlorenen oder Schifferknotens.
Als der Leichnam erkannt war, wurde er nicht, wie gewöhnlich, nach der Morgue transportiert, sondern, da diese Förmlichkeit für überflüssig erachtet wurde, nicht weit von der Stelle, an der man ihn ans Land gebracht hatte, eilig eingescharrt. Beauvais ließ es sich angelegen sein, die Sache soviel wie möglich zu vertuschen, und mehrere Tage vergingen, ehe etwas Weiteres an die Öffentlichkeit drang. Da nahm eine Wochenschrift die Sache von neuem auf, der Leichnam wurde ausgegraben und eine neue Obduktion angeordnet, die jedoch außer dem bekannten kein weiteres Ergebnis hatte. Doch wurden die Kleider der Verstorbenen der Mutter und Bekannten vorgezeigt und von ihnen mit Gewißheit als die erkannt, welche die Unglückliche bei ihrem Weggehen von daheim getragen hatte.
Unterdessen wuchs die Aufregung von Stunde zu Stunde. Mehrere Personen wurden verhaftet, aber wieder freigelassen. Ganz besonders verdächtig erschien Saint Eustache, da er sich anfänglich nicht genügend über seinen Aufenthalt an dem Sonntag, an dem Marie das mütterliche Haus verlassen hatte, auszuweisen vermochte. Später jedoch brachte er Beweise bei, die über jede Stunde des fraglichen Tages vollständige Rechenschaft ablegten.
Da die Zeit verging, ohne daß man eine Spur von den Verbrechern entdeckte, entstanden eine Menge Gerüchte, und die Presse trug das ihrige dazu bei, dieselben zu verbreiten. Die meiste Aufmerksamkeit erregte die Vermutung, daß Marie immer noch lebe – daß der in der Seine gefundene Leichnam der Körper einer anderen Unglücklichen sei. Ich halte es für angezeigt, dem Leser einige Stellen zu unterbreiten, welche die eben angeführte Vermutung zum Ausdruck bringen.
Diese Stellen sind wörtliche Übersetzungen aus der Etoile , einem im übrigen geschickt redigierten Blatte. Es hieß da:
›Fräulein Rogêt verließ die Wohnung ihrer Mutter am Morgen des . Juni. Es war ein Sonntag. Sie gab an, eine
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