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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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seinem Auge zu befreien.
    Und deshalb hält man mich für wahnsinnig! Wahnsinnige wissen nicht, was sie tun. Aber Sie sollten mich gesehen haben! Sollten gesehen haben, mit welcher Klugheit, mit welcher Überlegung und Vorsicht, mit welcher Verstellung ich zu Werke ging! Ich war niemals liebenswürdiger gegen den alten Mann als während der Woche, die der Nacht voranging, in der ich ihn tötete. Jede Nacht, um Mitternacht, drückte ich die Klinke seiner Türe nieder und öffnete sie – oh, wie leise! Und wenn ich sie weit genug geöffnet hatte, um meinen Kopf durch den Spalt stecken zu können, zog ich eine dunkle Laterne hervor, die ringsherum verschlossen war, so daß kein Lichtschimmer nach außen dringen konnte, und streckte meinen Kopf ins Zimmer.
    Hätte jemand gesehen, wie schlau ich das anfing, sicher hätte er gelacht. Ich streckte ihn ganz langsam, ganz, ganz langsam vor, damit ich den alten Mann nicht im Schlafe störte. Eine volle Stunde nahm ich mir Zeit, um meinen Kopf so weit durch die Öffnung zu zwängen, daß ich ihn auf seinem Bette erblicken konnte. Ha! Würde ein Wahnsinniger so viel Geduld gehabt haben? Und dann, wenn mein Kopf glücklich im Zimmer war, öffnete ich die Laterne so vorsichtig – oh, so vorsichtig (ihre kleinen Angeln hätten ja knarren können!) und nur so weit, daß ein einziger Lichtstreif auf das Geierauge fiel. Und dies tat ich sieben Nächte hindurch, jede Nacht genau um die Mitternachtstunde. Aber ich fand das Auge immer geschlossen, und deshalb war es mir unmöglich, die Tat zu vollbringen; denn nicht der alte Mann ärgerte mich, sondern nur sein böses Auge. Und jeden Morgen bei Tagesanbruch ging ich ganz unbefangen in sein Zimmer, sprach mit ihm, redete ihn in herzlichem Tone mit seinem Namen an und fragte ihn, wie er die Nacht verbracht habe. Er hätte also ein ganz besonders argwöhnischer alter Mann sein müssen, wenn ihm jemals der Gedanke gekommen wäre, daß ich ihn jede Nacht um zwölf Uhr, während er schlief, aufmerksam und mit der fürchterlichsten Absicht betrachtete.
    In der achten Nacht öffnete ich die Türe noch vorsichtiger als gewöhnlich. Der Minutenzeiger an der Uhr bewegte sich rascher, als ich meine Hand bewegte. Noch niemals vorher hatte ich den hohen Grad meiner Selbstbeherrschung und meiner Klugheit so gefühlt wie damals. Ich konnte mein Triumphgefühl kaum bändigen. Zu denken, daß ich hier allmählich die Tür öffnete und er auch im Traume nicht die geringste Ahnung von meinem geheimen Tun und Wollen hatte!
    Bei dieser Vorstellung konnte ich mich nicht enthalten, leise in mich hineinzukichern. Vielleicht hörte er es, denn in diesem Augenblicke bewegte er sich in seinem Bett, als fahre er plötzlich aus dem Schlafe auf. Man wird nun vielleicht denken, ich wäre geflohen? O nein! Sein Zimmer war stockfinster, denn aus Furcht vor Räubern hatte er die Läden fest geschlossen. Ich wußte also, daß er nicht sehen konnte, daß die Tür ein wenig offen stand, und mit zäher Beständigkeit öffnete ich sie langsam weiter … und weiter.
    Meinen Kopf hatte ich schon ins Zimmer gestreckt und wollte gerade die Laterne öffnen, als mein Daumen von dem zinnernen Verschluß abglitt und der alte Mann in seinem Bett aufsprang und rief: »Wer ist da?« Ich verhielt mich ganz ruhig und sagte nichts. Eine Stunde lang zuckte ich auch nicht mit einer Wimper, und während dieser ganzen Zeit hörte ich nicht, daß er sich wieder niederlegte. Er saß also im Bett aufrecht und horchte, geradeso, wie ich selbst es Nacht für Nacht getan hatte, auf das Ticken des Totenwurmes in der Wand.
    Dann hörte ich ein leises Stöhnen, und ich wußte, es war das Stöhnen der Todesangst. Es war kein Schmerzensseufzer, kein Seufzer aus Kummer – es war der leise, erstickte Ton, der sich aus der Tiefe einer von maßlosem Entsetzen gequälten Seele losringt. Ich kannte diesen Ton wohl. Manche Nacht, um Mitternacht, wenn alle Welt schlief, war er aus meinem Herzen aufgestiegen, und sein schreckenvolles Echo hatte das Grauen, das mich von Sinnen brachte, noch erhöht.
    Ich sage, ich kannte ihn wohl. Was der alte Mann empfand, wußte ich und bedauerte ihn, obwohl ich mich im Innern vor Vergnügen wand. Ich war überzeugt, daß er seit jenem ersten leisen Geräusch, das ihn im Bette auffahren ließ, wach lag, und sagte mir, daß seine Angst von Minute zu Minute gewachsen, daß er vergeblich versucht, sie sich als grundlos darzustellen, daß er sich eingeredet habe, es sei nichts –

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