Erzählungen
Madame Lalande machte, wurden natürlich so aufgefaßt, als ob sie sich auf die jüngere Dame bezögen; weshalb auch die Unterhaltung, welche ich mit den drei Herren nach Talbots Abreise hatte, leicht begreiflich schien, ebenso ihre Anspielung auf Ninon de l‘Enclos. Ich hatte nie Gelegenheit gehabt, Madame Lalande bei Tage zu sehen, und auf ihrer musikalischen Abendgesellschaft verhinderte mich meine alberne Eitelkeit, keine Augengläser zu tragen, wirklich daran, ihr Alter zu bemerken. Als man ›Madame Lalande‹ zum Singen aufforderte, meinte man die jüngere der beiden Damen, die dem Verlangen auch gleich nachkam; meine Urgroßmutter war, um mich vollständig zu täuschen, mit ihr ins Musikzimmer gegangen. Wenn ich darauf bestanden hätte, sie zu begleiten, würde sie mich schon unter irgendeinem Vorwand daran zu hindern gewußt haben. Die Arien, die mich so entzückt und mich nur noch in dem Glauben an die Jugend meiner Geliebten bestärkt hatten, waren von Madame Stephanie Lalande gesungen worden.
Das Augenglas wurde mir geschenkt, um dem schlimmen Streich noch einen Verweis hinzuzufügen, um dem hohnvollen Verrat noch einen besonders schmerzlichen Stachel zu geben. Denn als sie es mir schenkte, konnte sie mir ja, wie erwähnt, eine kleine Rede über Ziererei halten. Natürlich waren die Gläser, welche die Damen getragen hatten, durch neue, für meine Augen berechnete, ersetzt worden. Und sie paßten mir in der Tat ausgezeichnet.
Der Priester, der angeblich dies verhängnisvolle Band geknüpft hatte, war ein Freund Talbots gewesen und durchaus kein Diener der Kirche. Er war aber ein ausgezeichneter Rosselenker, der – nachdem er seinen Talar abgelegt hatte – in einen langen Mantel gehüllt das
›glückliche Paar‹ aus der Stadt fuhr. Talbot saß an seiner Seite. So hatten diese beiden Halunken gemeinsame Sache gemacht und schauten jetzt unter höllischem Gelächter der Auflösung des Dramas durch ein geöffnetes Fenster des Zimmers zu. Ich glaube, ich werde mich mit beiden duellieren müssen.
Aber ich bin zum wenigsten nicht der Gatte meiner Urgroßmutter, und diese Gewißheit gewährt mir eine ungeheure Erleichterung; denn ich bin jetzt wohl der Gatte der Madame Lalande – aber der Madame Stephanie Lalande, mit welcher mich meine gute alte Verwandte, nachdem sie mich zum einzigen Erben nach ihrem Tode
(wenn sie überhaupt je stirbt!) eingesetzt hat, doch noch nach vieler Mühe verbunden hat. Aber ich versichere Ihnen: in meinem Leben schreibe ich keine Liebesbriefe mehr, und nie mehr gehe ich ohne meine Augengläser aus.
EINE ERZÄHLUNG AUS DEN RAGGED MOUNTAINS
A Tale of the Ragged Mountains ()
Gegen Ende des Jahres während meines Aufenthalts in der Nähe von Charlottesville in Virginia machte ich zufällig die Bekanntschaft eines Herrn August Bedloe. Dieser junge Mann war in jeder Hinsicht ein höchst seltsamer Mensch und erweckte in mir ein tiefes Interesse, eine unbeschreibliche Neugier. Er war mir nicht allein in psychischer, sondern auch in physischer Beziehung ein Rätsel. Über seine Abstammung konnte ich keine befriedigende Auskunft erhalten.
Woher er kam, konnte ich nie mit Sicherheit feststellen. Und selbst was sein Alter anbetraf, so gab es – trotzdem ich ihn einen jungen Mann genannt habe – manches, was mich nicht wenig verwirrte.
Gewiß, er schien jung zu sein – und er betonte gern seine Jugend –, dennoch gab es Augenblicke, da es mich wenig Mühe kostete, mir einzubilden, er sei an hundert Jahre alt. Aber nichts an ihm war so sonderbar wie seine persönliche Erscheinung. Er war auffallend hoch gewachsen und mager. Seine Haltung war gebückt. Seine Gliedmaßen waren außerordentlich lang und dünn; seine Stirn war breit und niedrig, seine Hauptfarbe vollkommen blutlos. Sein Mund war groß und sehr beweglich, und seine Zähne waren kräftig, standen jedoch so unregelmäßig und in so großen Zwischenräumen, wie ich das noch bei keinem anderen Menschen bemerkt hatte. Sein Lächeln aber war keineswegs unangenehm, wie man vielleicht hätte annehmen könne, doch blieb es sich immer gleich. Es war voll tiefster Melancholie, voll gleichmäßiger, immerwährender Trauer. Seine Augen waren ungewöhnlich groß und rund, wie die einer Katze; und wie bei einer Katze erweiterten oder verengten sich die Pupillen, je nach der Lichtstärke, die sie traf. In Augenblicken der Erregung trat in seine Augen ein fast unbegreiflicher Glanz, ein Leuchten und Strahlen
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