Erzählungen
sein Befinden war nicht schlechter als gewöhnlich, seine Stimmung seltsam aufgeregt. Der Bericht, den er von seiner Wanderung gab und von den Ereignissen, die sein Ausbleiben veranlaßten, war in der Tat höchst sonderbar.
»Sie werden sich erinnern«, sagte er, »daß es etwa neun Uhr morgens war, als ich Charlottesville verließ. Ich lenkte meine Schritte sogleich den Bergen zu und gelangte gegen zehn Uhr in eine Schlucht, die mir ganz unbekannt war. Ich folge den Windungen des Engpasses mit großem Interesse. Die Szenerie, die sich rings bot, hatte, trotzdem sie nicht großartig genannt werden konnte, etwas ganz Eigenartiges und erfreute mich vor allem durch ihre vollständige Einsamkeit. Hier war geradezu jungfräulicher Boden. Ich konnte nicht umhin, mir einzubilden, daß der grüne Rasen, auf den ich trat, und die grauen Felsen, über die ich hinwanderte, noch von keinem menschlichen Fuß betreten worden seien. So vollkommen verborgen und tatsächlich nur durch allerlei wundersame Zufälle erreichbar ist der Eingang in dieses Tal, daß es durchaus nicht unmöglich ist, daß ich wirklich der erste war – der erste und einzige Abenteurer –, der je in diese Schlucht kam.
Der dichte sonderbare Nebelrauch, der für den Indianischen Sommer bezeichnend ist und der jetzt schwer auf allen Dingen lag, vertiefte den unbestimmten Eindruck, den diese Dinge auf mich machten. So dicht war dieser sanfte Nebel, daß ich den Weg vor mir stets nur eine kurze Strecke weit überblicken konnte. Der Pfad war vielfach gewunden, und da die Sonne nicht zu sehen war, wußte ich bald nicht mehr, in welcher Richtung ich mich vorwärts bewegte.
Inzwischen wirkte das Morphium wie gewöhnlich: die Erscheinungen der äußeren Welt wurden für mich von tiefstem Interesse.
Das Zittern eines Blattes – die Farbe eines Grashalms – die Form eines Kleeblattes – das Summen einer Biene – das Schimmern eines Tautropfens – das leise Wehen des Windes – die sanften Düfte vom Walde her – alles brachte mir eine Welt von Einbildungen, eine heitere, närrische Fülle unzusammenhängender krauser Gedanken.
So versunken ging ich stundenlang voran, und der Nebel um mich her wurde dichter und dichter, bis ich schließlich nur noch tastend vorwärts kam. Und nun ergriff mich eine unbeschreibliche Unruhe – ein nervöses Zittern und Verzagen – ich fürchtete, einen Fehltritt zu tun und in irgendeinen Abgrund zu stürzen. Auch erinnerte ich mich der seltsamen Geschichten, die über die Ragged Mountains in Umlauf sind, und der fremden wilden Menschenrasse, die in den Grotten und Höhlen dieser Berge hausen sollte. Tausend unbestimmte Einbildungen bedrückten und beunruhigten mich. Plötzlich drang lautes Trommelschlagen an mein Ohr.
Meine Bestürzung war natürlich grenzenlos. Trommelklang hier in den Bergen – das war etwas Unerhörtes! Die Posaunen des jüngsten Gerichts hätten mich nicht tiefer erschrecken können!
Aber etwas Neues und noch Verwirrenderes folgte. Es näherte sich ein rasselndes, klingendes Geräusch, wie der Klang eines großen Schlüsselbundes – und im selben Augenblick jagte ein dunkelhäutiger, halbnackter Mann mit einem Schrei an mir vorüber. Er kam mir so nahe, daß ich seinen heißen Atem im Gesicht spürte. In der einen Hand trug er einen Gegenstand, der aus vielen stählernen Reifen zu bestehen schien und den er im Laufen heftig schüttelte. Kaum war er im Nebel verschwunden, als mit offenem Rachen und flammenden Augen ein großes Untier hinter ihm herkeuchte. Ich irrte mich nicht, es war eine Hyäne.
Der Anblick dieser Bestie verminderte mein Entsetzen, statt es zu vermehren, denn jetzt war ich gewiß, daß ich träumte, und ich bemühte mich, zu klarem Bewußtsein zu erwachen. Ich schritt so schnell und mutig voran. Ich rieb mir die Augen. Ich schrie laut hinaus. Ich kniff mich in den Arm. Ein kleiner Quell bot sich meinen Augen, und ich beugte mich nieder und kühlte mir Hände und Nakken und Antlitz. Dies schien das unbestimmte Angstgefühl, das mich bisher geplagt hatte, zu zerstreuen. Ich erhob mich, wie ich vermeinte, als ein neuer Mensch und setzte meinen unbekannten Weg ruhig und besonnen fort.
Endlich, als ich vom Wandern sehr ermüdet war und eine seltsame Dichtigkeit der Atmosphäre mir die Luft benahm, setzte ich mich unter einen Baum. Im selben Augenblick durchdrang ein Sonnenstrahl den Nebel, und der Schatten des Baumes zeichnete sich schwach, doch deutlich im Gras ab. Minutenlang starrte
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