Erzählungen
Ich weiß es heute noch nicht. Doch sein Befehl wurde ausgeführt: das Schiff gewann Fahrt …
Zwei Tage darauf nagte der Hunger bereits recht böse an uns. Und am darauffolgenden Tag weigerten sich die meisten, überhaupt aufzustehen; bloß noch der Kapitän, Simonat, einige wenige Matrosen und ich hatten die Kraft, das Schiff auf seinem Kurs zu halten.
Am fünften Fasttage sah man fast keine Steuerleute und Mechaniker mehr. Wenn das noch vierundzwanzig Stunden so weiterging, würde keiner mehr die Kraft haben, auf seinen Beinen zu stehen.
Wir waren nun seit über zwölf Monaten quer durch die Meere gesegelt. Es mußte so um den 8. Januar herum sein. – Ich sage: ›es mußte …‹, weil ich es einfach nicht genauer sagen kann; denn der Kalender hat bei uns an Wichtigkeit verloren.
Jedenfalls, es war an jenem Tag, als ich das Ruder hielt und mich ganz und gar auf das Beobachten des vor uns liegenden Horizontes konzentrierte – und da schien mir, ich könne im Westen irgend etwas unterscheiden. Ich dachte, ich sei das Opfer einer Halluzination, und rieb mir die Augen. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht!
Ich stimmte ein wildes Gebrüll an, klammerte mich am Ruder fest und schrie dann:
»Land auf Steuerbord voraus!«
Welchen Zauber diese Worte wirkten! Alle, die da überall im Sterben gelegen hatten, sprangen erstaunlich lebhaft auf die Füße, und ihre hageren Gesichter zeigten sich an der Steuerbordreling.
»Wirklich, es ist Land!« stellte Kapitän Morris verblüfft fest, nachdem er den am Horizont auftauchenden Schatten beobachtet hatte.
Eine halbe Stunde später war kein Zweifel mehr möglich. Land – mitten im Ozean, Land, das auf keiner Karte zu finden war. Und wir hatten alle Gegenden abgesucht, wo früher Kontinente gewesen waren!
Gegen drei Uhr nachmittags hoben sich die Einzelheiten der Küste, die uns den Weg versperrte, schon klar hervor. Und wieder meldete sich die Verzweiflung. Denn diese Küste glich keiner der Küsten, wie wir sie früher gekannt hatten. Vor uns lag ein absolut kahles, wüstes Eiland.
Die Erde, die wir vor der Sintflut bewohnt hatten, war von sattem Grün gewesen. Und keiner von uns hatte je eine derart verlassene, derart kahle Gegend gesehen, wo nicht doch noch etwa ein paar Sträucher, ein paar Moosbänke oder doch mindestens ein paar Büschel Flechten auf den Steinen zu sehen gewesen wären. Hier nun gab es nicht einmal das. Wir konnten bloß einen schwärzlichen Felsabsturz erkennen, an dessen Fuß ein Chaos von Felsblöcken lag. Keine Pflanze, kein Gräslein, nichts! Es war eine im wahrsten Sinne gottverlassene Insel.
Während zweier Tage fuhren wir dieser Felswand entlang, ohne auch nur die kleinste Spalte darin entdecken zu können. Erst gegen Abend des zweiten Tages entdeckten wir schließlich eine große Bucht, die guten Schutz gegen den Wind vom Meer her bot. Dort fuhren wir hinein und gingen vor Anker.
In Rettungsbooten erreichten wir das feste Land, und dort war unsere erste Beschäftigung das Nahrungsammeln. Denn der Strand wimmelte von Hunderten von Schildkröten, und Millionen Muscheln lagen herum. In den Felsspalten gab es Krabben, Hummer und Langusten in Hülle und Fülle, dazu natürlich Fische in unerhörten Mengen. Offenbar würde das so dicht bevölkerte Meer uns – in Ermangelung anderer Hilfsquellen – auf unbeschränkte Zeit unseren Unterhalt garantieren.
Als wir uns gesättigt hatten, fanden wir einen Einschnitt in der Felswand, der uns ermöglichte, den Fels zu erklimmen. Oben angekommen, erblickten wir ein weites Gebiet. Der Anblick des Strandes hatte uns nicht getäuscht: nach allen Seiten gab es nur kahle Felsen, auf denen etwa getrockneter Tang und Algen zu erkennen waren, aber kein einziges Hälmchen Gras, nichts Lebendes, weder auf dem Lande noch in der Luft. Und überall waren kleine Seen zu erkennen, eher Teiche sogar, die in der Sonne glänzten. Wir wollten uns an einem von ihnen erfrischen – das Wasser war salzig!
Das erstaunte uns zwar nicht. Diese Tatsache bestätigte uns in der Annahme, daß dieses unbekannte Land erst gestern geboren und aus den Meerestiefen in einer einzigen Evolution aufgestiegen war. Das erklärte seine Öde, seine totale Einsamkeit. Es erklärte auch diese sonderbare, überall gleichmäßig verteilte Schlammschicht, die durch die Verdunstung nun langsam zu Staub wurde … Am folgenden Mittag ergab die Messung einen Punkt auf 17° 20’ nördlicher Breite und 23° 55’ westlicher Länge. Wir trugen
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