Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
Er nahm an der Party teil, und niemand sah ihm an, daß etwas
Besonderes mit ihm los war.
Er wußte es selbst nicht, obwohl eine düstere Ahnung
ihn erfüllte, die er jedoch nicht wahrhaben wollte.
Seine Freunde und Bekannten und auch die meisten Fremden, die ihm
vorgestellt worden waren, wußten, daß Rudi Czernin
längere Zeit nicht in seinem Haus am Wörther See gewesen
war, das er von einem reichen Onkel, der ohne Nachkommen starb,
geerbt hatte.
Viele neugierige Fragen waren gestellt worden, aber bis zur Stunde
hatte er niemand seinen Aufenthaltsort verraten.
Eines Tages war er stillschweigend und unerwartet ebenso wieder
aufgetaucht, wie er zuvor verschwand.
»Nun, mein lieber Czernin«, sagte Paul Gerauer mit
dröhnender Stimme. Er war der Gastgeber. In seinem exklusiven
Haus in Wien, einer alten Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende,
der sich, ein knapp viertausend Quadratmeter großes
Grundstück anschloß, gab er eine Abschiedsparty vom
Alltag, wie er es nannte.
Gerauer war wohlhabender Juwelier, Mitte Vierzig und hatte den
Entschluß gefaßt, sich zur Ruhe zu setzen. Seine
Läden in Wien, eine Filiale in Salzburg und eine dritte in
Innsbruck, hatte er verkauft. Mit dem ihm eigenen Geschäftssinn
hatte er notariell festlegen lassen, daß die Geschäfte
weiterhin unter dem eingeführten Namen liefen, und dafür
hatte er einen noch bedeutend höheren Preis erzielt.
»Wollen Sie wenigstens mir verraten, wo Sie sich aufgehalten
haben, hm?« Gerauer deutete mit einer kaum merklichen Geste in
die Runde. Sie standen in einer Art Säulenhalle, von der aus
eine breite, freitragende Marmortreppe mit einem schweren, roten
Teppich nach oben auf eine Galerie führte. Die Türen zu
sämtlichen Zimmern standen offen, und überall war etwas
los. Man hörte Stimmen, Lachen, Musik. Gläserklirren und
Lachen auch aus dem Keller. Dort unten, wo die Weinfässer lagen,
hatte Gerauer sich eine gemütliche Bar einrichten lassen. Rund
hundert Gäste waren geladen. Sie verteilten sich in dem
großen Haus. »Hier sind wir ganz unter uns. Czernin.
Spucken Sie’s aus! Sie sind Geologe. Haben Sie ’ne geheime
Goldader gefunden, von der kein Mensch etwas ahnt?«
Rudi Czernin lächelte nur. Sein bleiches Gesicht, schmal, die
Haut wie Pergament, ließ ihn etwas kränklich
erscheinen.
Er drehte verlegen sein Champagnerglas in der Hand und
schüttelte den Kopf.
»Kein Gold? Czernin! Sie haben eine ganz große
Entdeckung gemacht! Irgend etwas geht in Ihnen vor. Lernen Sie mich
die Menschen kennen!« Wenn Gerauer ein Geschäft witterte,
dann ließ er nicht mehr los. Er war ein typischer
Erfolgsmensch. Was er sich vornahm, bekam er. »Diamanten? Ist es
das, was Ihnen Kopfzerbrechen macht? Sie müßten
investieren, nicht wahr? Sie könnten Millionen scheffeln –
aber Ihnen fehlt das Startkapital. Hab’ ich recht?«
»Nein, das haben Sie nicht.« Die tiefliegenden Augen des
bleichen Czernin begegneten dem Blick seines Gegenüber. Gerauer
sah um zehn Jahre älter aus. Verlebt. Er rauchte wie ein Schlot,
trank wie ein Bierkutscher, und es ließ sich nicht mehr
abzählen, mit wem er schon alles geschlafen hatte. Was andere in
sechzig oder siebzig Jahren hinter sich brachten, hatte er in der
Hälfte der Zeit geschafft. Man sah es ihm an.
Czernin fuhr fort: »Und selbst wenn es so wäre, Gerauer,
haben Sie noch immer nicht genug?« Es klang weder beleidigend
noch zynisch. Es war eine Feststellung.
Gerauer grinste. Er strich mit dem Zeigefinger über sein
pechschwarzes Lippenbärtchen. Sein Haupthaar war schon recht
grau. Es wurde gemunkelt, daß Gerauer sich Augenbrauen und
Lippenbarthaare einfärben ließ. »Geld«, sagte
der Juwelier, die Stimme senkend, »Geld kann man nie genug
haben. Ob drei, vier oder fünf Millionen – es kann immer
noch weiter aufwärtsgehen.«
»Aber man kann nur essen und trinken.«
»Es gibt noch eine ganze Reihe anderer schicker Sachen auf
dieser Welt, Czernin. Sie reisen durch die Welt und freuen sich an
alten Steinen und der Bodenbeschaffenheit der Erde – und ich bin
zufrieden, wenn ich einen Blick auf meinen Kontostand werfe und
feststelle, daß die Stellen vor dem Komma weiter nach links
gerückt sind. Und je weiter sie nach links rücken, desto
größer ist meine Freude.«
Sie lachten beide. Juwelier Gerauer prostete seinem
Gesprächspartner zu und leerte sein Glas in einem Zug. Czernin
nippte nur an seinem Champagner.
»Na, nicht zu zaghaft, mein lieber Czernin, Schlucken Sie das
Zeug runter!
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