Es blieb nur ein rotes Segel
Woronowjew, Graf von Tjilma!
Ihre Einladung an Matilda Felixowna ist mir der Zuständigkeit halber übergeben worden. Mit großer Freude nehmen wir Ihre Einladung zum Sou per an, möchten aber vorschlagen, uns nicht im Palais Lila, um elf Uhr nachts zu treffen, sondern morgens um sechs Uhr auf dem freien Feld der Ka mennyi Ostrow, am Ufer der Großen Newa.
Um Ihnen entgegenzukommen, schlage ich eine Distanz von zwanzig Schritt vor. Die Pistolen werden von einem neutralen Offizier der Garde gebracht.
Mein Name ist Boris Davidowitsch von Soerenberg, ehemals Rittmeister der Kaiserlichen Gardehusaren und viermaliger Träger der Goldkordel für den besten Pistolenschützen. Matilda Felixowna ist meine Braut.
Es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, Sie morgen früh um sechs Uhr in die Ewigkeit zu befördern.
Mit großer Verehrung Ihr B. D. von Soerenberg.«
Bisher hatte es noch keinen Kavalier gegeben, der sich um sechs Uhr in der Frühe mit Borja getroffen hätte. Sogar in Berlin, wo Boris mit absoluter preußischer Entgegnung und trotzigem Heldentum gerechnet hatte, blieb jegliche Reaktion auf diese Briefe aus.
Nur in Madrid erhielt er einen Brief, allerdings erst drei Tage später. Ein großes, schwarzbeharrtes blutiges Tierohr lag dabei. Der Absender schrieb:
»Statt des Kavaliers habe ich meinen besten Stier getötet. Er hat mich dabei zwar schwer verwundet, aber ich konnte ihn noch erstechen. Das Ohr gehört Ihnen, Señor, als Erinnerung an einen Mann, der auf seine Weise sei ne Ehre beweisen und retten konnte.«
An diesem Tag der Generalprobe sortierte Matilda wieder einmal die Briefchen an den Blumenkörben aus. Dabei fiel ihr ein Strauß auf, der aus roten Tulpen bestand, zusammengebunden mit langen Zweigen von brennend rotem Dorn. Der Strauß war so ungewöhnlich und inmitten von Treibrosen und Orchideen so auffallend schlicht, daß Matilda den anhängenden Brief öffnete und las.
Es war ein gedruckter Bogen. In einem Manifest drohte eine unbekannte revolutionäre Gruppe, die sich ›Aufgeklärtes Rußland der Werktätigen‹ nannte, das Ende des Zarentums an.
»Rußland wird sich von dem Joch der regierenden Reichen befreien!« hieß es da. »Wir werden die Vermögen verteilen, und die Armen werden endlich ein Recht haben, zu leben. Freiheit für das Volk! Tod für die Ausbeuter!«
Und unter diesen Aufruf hatte jemand handschriftlich zugefügt:
»Ich bewundere Ihre Kunst, Matilda Felixowna. Aber ich verachte Sie, wenn Sie die tanzende Puppe der Reichen werden! Und das werden Sie hier in diesem morschen Rußland! Verlassen Sie nach der Krönung Rußland! Ich meine es gut mit Ihnen. Sie sollen nicht das Opfer einer Revolution werden! Und die Revolution kommt! Früher, als die Geldsäcke es ahnen. Wir können heute schon eines versprechen, und das wird die Welt verändern: Diese Krönung des Parasiten Nikolaus II. wird die letzte Zarenkrönung Rußlands sein! Matilda … warten Sie außerhalb Rußlands auf das Neue Rußland! Wir rufen Sie zurück …«
Matilda faltete das Manifest zusammen und brachte es zu Boris, der im Büro des Intendanten auf den Beginn der Generalprobe wartete. Ernst las er den Brief, gab ihn weiter und wartete, bis jeder im Raum ihn gelesen hatte.
»Eine Frechheit!« sagte Großfürst Alexej empört. Er war inkognito hier, um sich um eine kleine Tänzerin aus dem Corps de ballet zu kümmern, die seine alten Tage auflockerte. »Mit einem Feuerbesen muß man dazwischenfahren! Niki ist viel zu mild! Das ganze Gesindel einkassieren, in einen Eisenbahnwaggon verladen und ab nach Sibirien! Wälder roden, Sümpfe trockenlegen, Steine brechen … Da nützen sie Rußland wenigstens etwas! Welch ein Geschmeiß!«
»Ich glaube nicht, daß wir sie damit ausrotten!« Soerenberg nahm den Brief wieder an sich. »Das ist wie bei der Hydra: Schlägt man einen Kopf ab, wachsen drei neue nach! Ich fürchte, man kann die Entwicklung so nicht aufhalten.«
»Soerenberg, Sie sind ja infiziert!« rief der Großfürst entsetzt. »Auch die Hydra wurde besiegt … man brannte die Wunden aus! Nichts wuchs mehr nach! Und genau das werden wir tun! Wir rotten die Roten mit Stumpf und Stiel aus! Die Armee steht immer hinter uns!«
Boris Davidowitsch schwieg. Er kannte andere Betrachtungen. Nicht bei den Garden, aber bei den gemeinen Regimentern gärte es im geheimen. In der Marine rollten die roten Parolen von Schiff zu Schiff. Es war nicht abzusehen, wie die Armee reagieren würde, wenn
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