Es blieb nur ein rotes Segel
durchgetanzten Bildern wußte Petipa, daß er an Matilda nichts mehr zu formen hatte. Er beschäftigte sich nur noch mit den anderen Solisten und dem Corps de ballet. Auch der Partner der Felixowna, der junge Tänzer Wladimir Eugenowitsch Samkajin, dem man eine Weltkarriere voraussagte und der gleichfalls aus Tamara Jegorownas Schule stammte, war vollendet. Er tanzte – trotz seiner Muskelpakete – schwerelos und war vor allem in den Hebefiguren und seinen Sprüngen unschlagbar.
Die Vorbereitungen zu den Krönungsfeierlichkeiten liefen auf Hochtouren, die Stadt wurde geschmückt, aus allen Himmelsrichtungen strömten die Menschen nach St. Petersburg. Auch in Moskau sparte man nicht …
Wenn Nikolaus II. im Kreml einzog, sollte das ein Fest von solchem Prunk werden, daß es in der Geschichte Rußlands einen festen Platz einnehmen würde. Die Liste der Feierlichkeiten und Empfänge reichte vom 9. Mai bis zum 25. Mai 1896 – jeder Tag ein neues Fest, jeder Tag eine Demonstration vom unversiegbaren Reichtum Rußlands.
Ein Tag besonderen Glanzes sollte der 18. Mai werden. Traditionsgemäß begann an diesem Tag der große Jahrmarkt in Moskau. Dafür wurde der vor der Stadt gelegene Übungsplatz der Pioniere zur Verfügung gestellt, ein riesiges Feld, das Chodynskijfeld genannt wurde, das aber den großen Nachteil hatte, daß es mit tiefen Gräben und Löchern durchzogen war, in denen die Armee den Nahkampf, die Eroberung von Unterständen und den Grabenkrieg übte.
Die Polizeibehörden von Moskau ließen zwischen der Budenstadt des Jahrmarktes und dem freien Feld einen fünfzig Meter breiten und acht Metern tiefen Graben ausschaufeln, um die Menschenmasse, die man erwartete, nicht über die Verkaufsstände herfallen zu lassen.
Zar Nikolaus II. war darauf bedacht, bei seiner Krönung zu dokumentieren, wie sehr er mit seinem Volk verwachsen war. Er hatte allen, die nach Moskau kamen, ein Geschenk zur Krönung versprochen: Lebensmittel, ein leicht gebrautes Bier, Schüsseln und Schalen aus Zinn, in die man den kaiserlichen Adler und die Initialen des Zarenpaares geprägt hatte. Ein Geschenk in Millionenhöhe, denn man erwartete rund eine Million Zuschauer.
Seit Wochen arbeiteten die Behörden an der Durchführung dieser Pläne.
Der Generalgouverneur von Moskau, Großfürst Sergeij, der Bruder des verstorbenen Zaren Alexander III., leitete die gesamte Krönungsfeier in Moskau. Er sorgte auch für genügend starke Polizeikräfte, denn er kannte seine lieben russischen Landsleute. Vor siebzig Jahren, bei der Krönungsfeier des Zaren Nikolaus I., war nämlich das Volksfest zu einer Massenschlägerei geworden, bei der es viele Tote und ungezählte Verletzte gegeben hatte. Damals war das Fest noch vergleichsweise klein gewesen, in den vergangenen Jahrzehnten jedoch war es zu einem Volksfest und Jahrmarkt angewachsen, wie er auf der Welt nicht seinesgleichen hatte. So gigantisch dieses Rußland war, so unüberblickbar wurde dieses Moskauer Maifest.
Da es in diesem Jahr mit der Krönung zusammenfiel, standen den Beamten schon Wochen voraus die Haare zu Berge. Aber man würde es durchstehen, tröstete man sich. Rußland hatte schon andere Probleme gemeistert unter Einsatz seiner genialen Improvisationsgabe. Denn im Improvisieren waren die Russen unschlagbar.
So war ringsum alles auf diese feierlichen Wochen vorbereitet, als am 7. Mai die Generalprobe von ›Schwanensee‹ stattfand. Die Garderobe stand schon jetzt voller Blumen. Die elegante Welt St. Petersburgs, vor allem die jungen Lebemänner aus dem höchsten Adel, die einen vollkommenen ›Pariser Stil‹ in die russische Gesellschaft eingeführt hatten, schickten Körbe und Gebinde mit den teuersten Blumen, nicht ohne in einem anhängenden Brief um die ›Gnade eines Diners‹ zu bitten oder gar um ›ein Souper‹ in einem der feinen Lokale, wo man hinter verschlossenen Türen und in Separees fürstlich speiste und nicht nach dem Preis für den Champagner fragte.
Matilda Felixowna war das alles von Rom, London, Mailand und Berlin gewöhnt. In allen Städten, wo sie tanzte, gab sie alle Briefe ungelesen an Boris weiter, der sich ein Vergnügen daraus machte, sie zu beantworten.
Jeder der liebedurstigen Herren erhielt den gleichen Text, und bisher hatte er immer eine starke Wirkung hinterlassen: Man hörte nämlich von diesen Ehrenmännern keinen Ton mehr …
Boris Davidowitsch ließ durch seinen Sekretär schreiben:
»Hochwohlgeborener Herr Jefim Iwanowitsch
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