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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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bemerkte, dass ich ihn bemerkte. Wahrscheinlich aus Angst, ich würde ihn verraten, steckte er mir eine Zigarette zu, in der Hoffnung, die gemeinsame Abhängigkeit würde uns zu Comrades in Crime zusammenschweißen. Doch mit sieben war ich am Rauchen noch gar nicht interessiert, das kam bei mir erst später.
    Mein Vater war dagegen ein Frühentwickler gewesen, er hatte es geschafft, schon mit acht zu qualmen. Die deutschen Kriegsgefangenen hatten ihn abhängig gemacht. Als der Krieg begann, wurde mein damals siebenjähriger Vater zusammen mit seiner Mutter aus Odessa in ein Dorf hinter dem Ural evakuiert. Er war glücklich: ein Jahr Schulausfall und ein Reiseabenteuer gleichzeitig! Ein Jahr später kamen die ersten deutschen Kriegsgefangenen, die neben dem Dorf in einem Lager lebten und arbeiteten. Die Kinder klebten am Zaun, um mit den Soldaten Tauschgeschäfte abzuwickeln. Tabak, Seife und Rasierklingen waren die wichtigsten deutschen Währungen, die sie gegen Brot, Wodka und Speck eintauschten. Und natürlich qualmte bald jedes Kind wie ein Schlot. Mein Vater hat fünfzig Jahre lang durchgeraucht und dann in den späten Achtzigern aufgehört, als sich plötzlich alle begeistert dem Jogging hingaben. Auch mein Vater konnte dieser allgemeinen Hysterie nicht widerstehen.
Nachdem aber zwei seiner besten Jogger-Freunde durch einen Herzinfarkt vorzeitig von ihrer Jogger-Strecke gerissen wurden, hörte mein Vater wieder mit dem Joggen auf und schaltete auf Fernsehen um.
    Ich habe mit dem Rauchen aufgehört, als die Diskussion über das Rauchverbot in Deutschland losgetreten wurde. Diese medieninspirierte Hysterie zur Stigmatisierung des Rauchers als eine Art Todesengel, der gute Menschen an öffentlichen Orten mit Krebs vollqualmt, bewirkte bei mir eine Rauchblockade. Trotzdem bekam ich beinahe täglich Einladungen in Talkshows.
    »Sie, als prominenter Raucher, haben Sie nicht Lust, den Advocatus Diaboli zu spielen?«
    »Es tut mir leid, ich habe aufgehört. Vorübergehend.«
    Ich weiß, spätestens in einem Jahr wird das Thema vergessen sein, eine neue Hysterie wird die Gesellschaft erschüttern. Niemand kann derzeit mit Sicherheit sagen, wie der nächste Feind heißen wird, wenn man aber der These Glauben schenken darf, dass alles Idiotische aus Amerika kommt, dann wird es wohl das Thema »Fett« sein. Es wird eine halbe Million Fetttote pro Jahr geben und mindestens dreitausend passive Fetttote, die nichts gegessen, sondern nur zugeschaut
haben. Es werden fettsüchtige Prominente für Talkshows gesucht, solche, die zu ihren Fettpolstern stehen, und solche, die alles tun, um sie loszuwerden. Dann wird auch das Fett vergessen sein und wieder etwas Neues kommen, weil wir hysterieabhängig sind.
    In diesen nikotinfreien Tagen erinnere ich mich gern an die ganz alten Hysterien, die es vor zwanzig, dreißig Jahren gab. Damals bekämpfte man rücksichtslos die Onanie. Es ging um Leben und Tod. Ob und wie viele aktive beziehungsweise passive Onanietote es damals gab, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, es gab aber mit Sicherheit viele Verletzte. Onanie führte zu Ausdünnung des Rückenmarks, Verspannung des Beckens, Überspannung der Oberschenkelmuskulatur, ganz zu schweigen von Verletzungen im Genitalbereich, Kinderlosigkeit und schweren psychischen Schäden. Eine ganze Generation drohte auszusterben, tat es aber nicht. Im Gegenteil: Diese Onanie-Generation hat heute alle Fäden in der Hand. Sie sitzt im Parlament, sie bildet die Regierung, sie sitzt in allen Aufsichtsräten und Gremien und macht mit wenigen Ausnahmen einen recht gesunden Eindruck. Sie legt die Finger in die neuen Wunden unserer Zeit. Das Rauchen. Es stinkt so sehr an öffentlichen Orten, dass man sie nur mit einer
Gasmaske betreten kann! Und wir haben jahrelang geschwiegen!
    Um aber die Luft wirklich sauber zu bekommen, würde ich ganz anderes als das Rauchen verbieten. Ich würde Autos und Kühe verbieten, wegen der Abgase, Biertrinker wegen ihres Rülpsens und Pupsens, überhaupt jeden Mundgeruch an öffentlichen Orten, dazu Sport, wegen des unangenehmen Schwitzens, Krieg und Terror, wegen des vielen Schießpulvers und der Sprengstoffe, Fußgänger wegen des ganzen Mülls, den sie verursachen, und zuletzt Magen-Darm-Grippen, damit immer ein frischer Wind weht und man ewig lebt – an öffentlichen Orten.

Rituale des vorigen Jahrhunderts
    Ob man dynamisch oder faul ist, sich einen Lebensentwurf nach dem anderem bastelt oder auf das Augenzwinkern

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