Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
ab und zu mal Krach. Seit wir in die Schönhauser Allee gezogen sind, herrscht aber Ruhe in unserem Wohnzimmer.
Die große magische Bedeutung der Straßennamen offenbarte sich mir letztens, als wir meine Schwiegermutter in Russland besuchten. Die Familie meiner Frau lebte bis 1991 in Grosny, der Hauptstadt von Tschetschenien, in der Dostojewski Gasse. Nach dem
tschetschenischen Aufstand, der gegen die dort lebenden Russen gerichtet war, mussten sie über Nacht die Stadt verlassen und ließen sich in einem Tal im Nordkaukasus nieder, nicht weit von der tschetschenischen Grenze entfernt. Dort mussten sie das Leben von vorne anfangen. Zuerst überwinterten sie in der Steppe mit einem Dutzend anderer Flüchtlingsfamilien in Bauwagen und hatten nicht einmal eine Postadresse. Dann bauten sie nach und nach aus den Resten einer verlassenen Rinderfarm richtige Häuser. Seit zweieinhalb Jahren ist die Siedlung von der Gebietsadministration als Wohneinheit anerkannt. Als Erstes gönnten sich die Bewohner ein Straßenschild in der Steppe, obwohl sie sich auf der flachen Ebene unmöglich verlaufen konnten. Den Namen ihrer Straße durften sie selbst bestimmen. Modern sollte der Name klingen, anspruchsvoll und optimistisch. Nach monatelangen Debatten und so verrückten Vorschlägen wie »Unter den Birken« oder »Kaukasusboulevard« einigten sie sich auf »Steppenpiste«.
Auf der anderen Seite der verlassenen Rinderfarm stand seit eh und je ein kleines Dorf. Dort wohnten die ehemaligen Melker, die früher auf der Farm gearbeitet hatten. Diese Einheimischen erblassten vor Neid, als sie das Straßenschild sahen. Sie waren zwar auch als selbstständige Wohneinheit anerkannt und
wurden einmal in der Woche vom Briefträger beehrt, hatten aber bis dahin immer ohne Straßenschild vor sich hin gelebt. Mehrmals entfalteten sie deswegen terroristische Aktivitäten gegen das Schild der Nachbarn. Dann entstand auch in dieser Wohneinheit spontan eine Volksinitiative zur Gründung der ersten Straße. Einen schönen Namen hatte man sich bereits überlegt: »Milchstraße« sollte sie heißen, obwohl es dort längst keine Kühe mehr gab. Aber vielleicht würden sich danach einige welche zulegen. Auch eine Kreuzung mit der Steppenpiste ist schon geplant.
Ninja-Werden in drei Schritten
Neulich in Moskau besichtigte ich einige Buchläden: Was für eine Vielfalt! Nur achtzehn Jahre nach der Konterrevolution stehen Tausende von Titeln für jeden Geschmack in den Regalen – alles, was das neue Herz begehrt. Gut, ein paar Krimis und Abenteuerromane gab es auch früher, sie wurden regelmäßig in der damals sehr populären Monatsbeilage der Zeitschrift Die Dorfjugend abgedruckt. Und die klassische Belletristik, die Schriftsteller der alten Zeit, konnte man mit Mühe und Not im Samisdat finden. Was aber im Sozialismus grundsätzlich fehlte und sich erst in diesen wilden kapitalistischen Jahren entfaltete,
war die Ratgeberliteratur, dieses zusammengepresste Wissen für Millionen, die Gebrauchsanweisungen für das Leben – die Anleitung, wie man alles richtig ineinandersteckt.
Allein schon diese herrlichen Titel geben einem Mut, sie meinen es gut mit einem: Alles ist möglich , für nichts ist es zu spät, lies einfach nur dieses Buch, und auch du alter Waschlappen kriegst einen hoch, auch du hirnloser Vollidiot kannst noch klug und intelligent werden! Sei nicht so ungläubig, lies einfach, und schon bist du auf der Sonnenseite des Lebens. Während die deutschen Ratgeber sich noch in den Grenzen des Nachvollziehbaren bewegen, abgesehen von einigen ulkigen Fantasietiteln wie So zähmen Sie Ihren inneren Schweinehund , Kamasutra für Autofahrer oder Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten, versprechen die russischen Ratgeber mehr: Mein kleiner Garten auf dem Balkon – sich ernähren, ohne die Wohnung zu verlassen zum Beispiel oder Schnaps brennen ohne Brenner . Einen Ratgeber haben wir jedoch sofort favorisiert und gekauft: Wie werde ich Ninja in drei Schritten . Das hat uns ins Herz getroffen. Ninja in drei Schritten, davon träumten meine Frau und ich schon lange. Aber wer hätte gedacht, dass alle unsere Landsleute auch Ninjas werden wollen? Und das in drei Schritten, das hat mich ehrlich gesagt umgehauen.
Würde man im Westen die zahlreiche Ratgeberliteratur zusammenlegen – lieferbar sind nach meiner Recherche zurzeit etwa über achtzehntausend Titel, die aber fast alle das Gleiche versprechen –, käme am Ende ein schlanker
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