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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Steuerhinterzieher dabei heraus, Nichtraucher, der immer gut aussieht, immer glücklich ist, und egal, was um ihn herum geschieht, er hat immer einen Ständer. Ein Arschloch, also. Würde man die russische Ratgeberliteratur zusammenlegen, käme am Ende ein bastelwütiger Versager heraus, der Angst hat, seine Wohnung zu verlassen. Er weiß, dass nichts auf der Welt eine Anstrengung wert ist, außer der einen: Ninja zu werden, in drei Schritten.
    Hätte ich dieses Buch als Kind in die Hand bekommen, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Gab es aber früher nicht. Obwohl die Sowjetunion das Land der Räte hieß, gab es bei uns keine schriftlichen Ratschläge. Wir waren zu bescheiden. Das Handbuch, das man im Westen als Noch mehr Spaß am Sex III kennt, hieß bei uns Die Harmonie in der Familienbeziehung  – ein kleines rosa Bändchen mit einem sozialistischen Adam und einer sozialistischen Eva auf dem Cover. Die beiden sahen aus, als hätte eine Verbrecherbande sie gerade bis auf die letzte Socke ausgeraubt. Auf jeden Fall stand ihnen ins Gesicht geschrieben, dass sie nichts miteinander zu tun haben
wollten. Zwischen dem Mann und der Frau lag ein fauler Apfel, und aus dem Apfel blickte ein Wurm heraus. Es ging um Masturbation und Ehehygiene im Allgemeinen.
    In der DDR, so haben mir Kollegen erzählt, gab es ebenfalls kaum Ratgeber, aber die wenigen trugen dafür etwas romantischere Titel wie Denkst du schon an Liebe? Oder: Wie geht das? Letzteres war eigentlich ein Reparaturbuch für Trabanten, wahrscheinlich so ähnlich wie das Kamasutra für Autofahrer, nur ohne Frau. Für die sowjetischen Autofahrer wäre ein solches Autoreparaturbuch uninteressant gewesen, denn ohne zu wissen, wie das geht, hätte der sowjetische Autofahrer keine Chance gehabt, überhaupt mit seinem Wagen loszufahren. Jeder musste gleich nach dem Kauf das Auto auseinandernehmen, alle vom Werk aus fehlenden Ersatzteile besorgen und dann das Auto zusammenbauen. Jeder Autofahrer war also sein eigener Ratgeber.
    In der Sowjetunion und der DDR gab es dafür den gleichen politischen Ratgeber: Was tun? von W.I. Lenin. Ein Werk, das übrigens in Stuttgart zum ersten Mal die Welt erblickte, aber nicht ernst zu nehmen war, weil vor mehr als hundert Jahren geschrieben und völlig überaltert. Das Buch Was tun? war die Fortsetzung eines früheren Werkes von Lenin mit dem
Titel Womit fangen wir an? – und hat mit der Schrift von Trotzki, Was nun?, nichts zu tun. Im zweiten Teil seines Werkes faltet Lenin die Sozialdemokraten zusammen, die den Proletariern nur irgendwelche Forderungen nach wirtschaftlichen Reformen andrehen wollten, als ginge es bloß um einige Rubelchen und nicht um die Weltrevolution. Dieses Herunterspielen der revolutionären Bewegung zu einer Gewerkschaft nach westlichem Standard machte Lenin rasend. Er wollte den Kampf gegen die Monarchie von den wirtschaftlichen Zwängen befreien und war überzeugt, dass man nicht nur den Arbeitern, sondern allen Bevölkerungsschichten eine Sehnsucht nach neuen Verhältnissen einpflanzen müsse. Es wäre dabei nicht nötig, den Leuten alle Einzelheiten der sozialistischen Zukunft und den unvermeidlichen Untergang des Kapitalismus zu erklären, um sie für den Kampf gegen die verhasste Monarchie zu gewinnen. Das ging schon allein deswegen nicht, weil damals etwa achtzig Prozent der Bevölkerung Analphabeten waren. Also mussten die Menschen einfach an den Sozialismus glauben, so ähnlich wie sie an Gott glaubten.
    Siebzig Jahre später gab es keine Analphabeten mehr, und auch über den Sozialismus wusste man nun zu gut Bescheid. Er war doch nur eine andere Form der Unterdrückung und der Tyrannei. Also zog
uns der Kapitalismus in seinen ewigen Untergang. Er war zwar nicht neu und modern, dafür aber mit Schönheitswettbewerben, Bowlingcentern und freier Marktwirtschaft ausgestattet. Die ersten zehn kapitalistischen Jahre waren kein Honigschlecken, der Mensch mutierte zu einer bloßen Ware, wurde immer hilfloser und zum Sklaven der Märkte: Geld verdienen, Geld ausgeben – in diesem ewigen Kreislauf drehte er nun seine Runden. Was nun? Die russische Antwort heißt: Mein kleiner Garten auf dem Balkon – sich ernähren, ohne dieWohnung zu verlassen. Oder doch Ninja zu werden in drei Schritten? Sich unsichtbar und gefährlich bei den Schönheitswettbewerben und in die Bowlingcenter einschleichen, nichts ahnende Mitmenschen hypnotisieren und manipulieren, ohne Auftrag, einfach nur so aus Spaß. Und dann

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