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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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des Schicksals verlässt, das meiste im Leben ereignet sich trotzdem. Die Eckdaten jedes Lebenslaufs, die Meilensteine jeder Biografie-Geburt, Heranwachsen, Altern und Sterben finden quasi ohne jegliches Mitwirken des Subjekts statt, als wären wir nur Nebendarsteller im Puppentheater der Natur. Um die eigene Wichtigkeit hervorzuheben und die Einmaligkeit des Geschehens zu unterstreichen, entwickeln die Menschen wie am Fließband kollektive und individuelle Rituale, Gesten des Widerstands gegen
die Gleichgültigkeit der Biologie. Je mehr Rituale uns im Alltag begleiten, desto bedeutsamer erscheint unser Lebenswerk. Diese Rituale sind von ungeheuerer Vielfalt. Sie sind in der Regel in der Geschichte, den herrschenden religiösen Vorstellungen und der kulturellen Tradition des jeweiligen Landes verankert. Ganze Reiche, Imperien, Diktaturen und Demokratien gehen unter, sie lösen sich in der Geschichte auf, ihre Rituale aber bleiben bestehen.
    Ich glaube fast, es gibt inzwischen mehr Rituale auf der Erde, als es Menschen gibt. Ihre ursprüngliche Bedeutung ist oftmals verloren gegangen, trotzdem halten die Menschen an ihnen fest. Seit fünfzehn Jahren lebe ich in Deutschland, und jedes Mal, wenn die Osterzeit anbricht und sich das Land mit Hasen und Eiern schmückt, frage ich meine Freunde und Bekannten, was diese Symbole für eine Bedeutung haben. Jedes Jahr bekomme ich eine andere Antwort. Die einen denken dabei an Frieden und Frühling, die anderen an Butter und Mutter, wieder andere an Hexen und Sex.
    Ich habe auch oft erlebt, dass ein und dasselbe Ritual in verschiedenen Ländern ganz unterschiedliche Bedeutung hat. Ich bin in der Sowjetunion groß geworden; in unserem sozialistischen, atheistischen Vaterland wurden die meisten Rituale vom Staat kreiert
und organisiert, Freude und Trauer musste man kollektiv äußern. So wurden die Moskauer beispielsweise zu jedem Jahrestag der Revolution zur Großen Parade am Roten Platz zusammengepfiffen, winkten dort mit kleinen Fahnen und bekamen dafür einen freien Tag, Studenten und Schüler hatten schulfrei. Falls einer von unseren Führern starb, bekamen wir ebenfalls schulfrei und mussten dafür nur kurz an einer Trauerfeier teilnehmen. Die meisten sowjetischen Rituale waren einfach und knapp. Umso gewichtiger erschienen uns die wenigen individuellen Rituale, die im Schatten des Staates, im Privaten, stattfanden. So musste zum Beispiel ein Vater nach der Geburt seines Kindes der Krankenschwester fünfundzwanzig Rubel geben und sich anschließend betrinken. Man durfte das Kind drei Monate lang niemandem zeigen, und außerdem hatte man die männlichen Babys immer in Blau, die weiblichen in Rosa zu kleiden.
    Das wichtigste Ritual der Heranwachsenden war in meiner Jugendzeit die Pflege des erst noch wachsenden Schnurrbartes. Wir standen alle unter einem enormen Druck, den die körperlichen Veränderungen in der Pubertät mit sich brachten. Bei den Mädchen waren es die Brüste, die unterschiedlich schnell wuchsen, bei den Jungs die Schnurrbärte. Mädchen mit größeren Brüsten hatten die Nase vorn, die mit den
kleineren schoben sich Papier in die BHs, was von ihren Mitschülerinnen jedoch gnadenlos entlarvt wurde. Die Jungs konnten bei ihren Schnurrbärten leider nicht so leicht schummeln. Wie bei jedem Wettbewerb genossen die Sieger beiderlei Geschlechts die größte Autorität in der Klasse, mit Ausnahme von Alina, einem Mädchen, das große Brüste und einen Schnurrbart hatte. Dieser Überschuss an Reife irritierte alle und kam deswegen nicht besonders gut an. Ich dagegen war ein Spätentwickler. Mein Schnurrbart ließ lange auf sich warten, und auch regelmäßiges Rasieren bei Vollmond brachte keine sichtbaren Ergebnisse. Die notwendige Dichte erreichte mein Schnurrbart erst, als ich schon mit der Schule fertig war. Damals führte ich wie viele Jugendliche ein Tagebuch, deswegen kann ich noch heute das genaue Datum rekonstruieren. Die Eintragung vom 26. Juni 1986 lautet: »Endlich, sie sind da.« Ein Schnurrbart kommt auf Russisch stets im Plural daher, weil es aus russischer Sicht immer zwei sind.
    Aus heutiger Sicht kann ich mir nicht erklären, warum ich damals so plötzlich, quasi über Nacht, einen solchen rasanten Haarwuchs bekam. Vielleicht war es eine körperliche Reaktion auf den Rückzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan. Es könnte aber auch mit der damaligen radioaktiven Situation
in unserem Land zu tun gehabt haben. Im April 1986 explodierte das AKW in

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