Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Tschernobyl, und während die offiziellen Quellen die Gefahren verschwiegen, schlugen westliche Radiosender Alarm. In der Bevölkerung kursierten verschiedene Rezepte zur Vermeidung möglicher gesundheitlicher Schäden. Am häufigsten wurden Rotwein der Marke Cabernet und Wodka mit Jod empfohlen. Die konservative Mehrheit trank jedoch zur Vorbeugung weiter Wodka mit Bier. Die Stimmung war alles andere als optimistisch. Alle hatten Angst vor radioaktiver Verseuchung. Man sprach von Krebs, Impotenz, Haarausfall. Bei mir wuchs über Nacht der Schnurrbart.
Im Herbst 1986 wurde ich einberufen. Laut eines ungeschriebenen Rituals durfte jeder Soldat, der auf dem Foto in seinem Militärausweis einen Schnurrbart trug, diesen auch während der Dienstzeit behalten. Auf meinem Foto war er nicht zu übersehen. Unser Oberst hatte aber seine eigenen Vorstellungen, wie ein Schnurrbart auszusehen habe. Gleich am ersten Tag stellte er uns junge Soldaten in Reih und Glied und verkündete, er würde nur richtige Schnurrbärte akzeptieren und keine Schamhaare im Gesicht. Als Maß des Richtigen wies er auf seinen eigenen Schnurrbart, der mehr nach einer Waffe aussah, die außerdem ständig in Bewegung war. Wenn der Oberst
sich aufregte, zog sich das Ding nach oben. Im entspannten Zustand konnte er sich seinen Schnurrbart wahrscheinlich um die Ohren legen.
Die meisten Kameraden rasierten sich ihre Bärte sofort nach dieser Warnung ab, um Ärger zu vermeiden. Ich ließ meinen dran. Eine Zeit lang konnte ich als einziger Schnurrbartträger unserer Einheit punkten. Leider war diese Zeit nur kurz, ungefähr zwölf Stunden, dann wurde ich vom Oberst angehalten und mit einer inkorrekten Frage traktiert: »Warum haben Sie Scheiße im Gesicht, Soldat?« Ich pochte auf meine Rechte, verwies auf das Foto im Militärausweis, aber alles umsonst. Mein Schnurrbart und ich, wir mussten uns trennen.
Erst im zweiten Jahr, als Altgedienter, durfte ich die Witze des Obersts ignorieren. Ich ließ mir wieder einen Schnurrbart wachsen, der immer größer wurde. Ich probierte unterschiedliche Formen aus. Nach Deutschland kam ich dann mit einem Schnurrbart à la Frank Zappa, bei dem man die Spitzen wahlweise nach oben oder nach unten zwirbeln konnte. Hier wurde ich mit einer neuen Realität konfrontiert, in der ein Schnurrbart nicht für Männlichkeit, sondern für Rückständigkeit steht. Ich war nur von Glattgesichtern umgeben. Die meisten Schnurrbartträger in Deutschland sind entweder türkische Imbissbudenbesitzer
oder freakige Schaffner oder Günter Grass.
Ein Freund von mir stellte einmal die These auf, der Schnurrbart sei antidemokratisch, eine Mode in Diktaturen. »Schau dich doch mal um, wo die meisten Schnurrbartträger herkommen«, meinte er. »Iran, Irak, Russland …«. Ich konterte mit den schnurrbartlosen Regimen Kambodscha und Nordkorea. Zuletzt schlossen wir eine Wette ab. Genau eine Stunde lang spazierten wir durch Berlin, auf der Suche nach einem deutschen demokratischen Schnurrbartträger. Sollten wir nur einem einzigen begegnen, versprach mir mein Freund, würde er sich auch sofort einen Schnurrbart wachsen lassen. Andernfalls müsste ich meine zwei abrasieren. Im Nachhinein glaube ich, ich hätte leicht gewinnen können, wären wir nicht ausgerechnet durch Kreuzberg gegangen.
Betrug als Muster der zwischenmenschlichen Beziehung
In jungen Jahren lassen sich Jungs noch gern von kriminellen Abenteuern begeistern. Wenn unsere Schulklasse ins Kino ging, waren fast immer die bösen Buben unsere Helden. Kein Wunder, denn sie bekamen auch jedes Mal am meisten ab. Die Verbrecher waren die Getriebenen, ständig auf der Flucht vor den Guten sprangen sie im Kugelhagel über Dächer und kamen meistens gegen Ende um. Sie waren geschickt, rücksichtslos und clever, hatten aber trotzdem keine Chance – weil die Regie es so wollte. Ich hatte jedoch früh meine Begeisterung für alle Kriminellen
verloren, nachdem zwei Jungs aus meiner Klasse wegen Diebstahl im Jugendknast gelandet waren. Damals erlosch die Romantik des Verbrechens für mich, mit Ausnahme von Betrug vielleicht, der menschlichsten aller Untaten.
Anders als bei anderen Verbrechen haben bei Betrügereien auch die Opfer ein bisschen Spaß. Betrüger sind oftmals nett und sympathisch, das gehört einfach zu ihrem Beruf. Kein Mensch wird einem unsympathischen Betrüger sein Geld aushändigen. Während ein Raubüberfall auf rohe Gewalt setzt, ein Diebstahl auf Fingerfertigkeit und
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